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© dpa

Piraten: Wurde die "Arctic Sea" entführt?

Russland zufolge wurde die inzwischen befreite "Arctic Sea" von Piraten entführt. Wie wahrscheinlich ist das?

Stimmt die Version des russischen Verteidigungsministers, hat es die internationale Schifffahrt erstmals seit langer Zeit wieder mit Piraten in der Ostsee zu tun. Doch auch einen Tag nach der Befreiung des angeblich vor drei Wochen in der Ostsee gekaperten und dann verschwundenen finnisch-russischen Holzfrachters „Arctic Sea“ durch die russische Marine nahe dem westafrikanischen Inselstaat Kap Verde ist vieles unklar.

Was ist über die Entführung bekannt?

Das Schiff, das mit Holz aus dem finnischen Hafen Jakobstad auf dem Weg nach Bejaia in Algerien war, soll am 24. Juli in schwedischem Hoheitsgewässer nahe der Insel Öland von vier Esten, zwei Russen und zwei Letten mit Waffengewalt gekapert worden sein. Eine Woche später hieß es von der Reederei mit Sitz in Helsinki und deren russischen Eigentümern, die Seeräuber hätten das Schiff nach zwölf Stunden ohne Beute verlassen, die „Arctic Sea“ mit ihrer 15- köpfigen russischen Besatzung sei wieder auf planmäßigem Kurs nach Algerien. Das hat sich nun als falsch erwiesen.

Warum wartete die Reederei so lange?

Dass die Kaperei in der Ostsee erst eine Woche verspätet bekannt wurde, lag finnischen Medien zufolge an der Reederei Solchart, die zunächst nur die russische Botschaft, aber nicht die finnische und schwedische Küstenwache informiert habe. Daher unternahm die britische Küstenwache nichts, als das Schiff den Ärmelkanal passierte. Denn sie wurde gar nicht informiert – ein Vorgang, den die Küstenwache, wie Sprecher Fred Gill bestätigt, „ein wenig merkwürdig“ findet. Nachdem das Schiff aus dem vielbefahrenen Ärmelkanal heraus war, meldete die Reederei plötzlich eine Entführung. Demnach hatten die Seeräuber die „Arctic Sea“ nie verlassen. „Das Schiff wurde höchstwahrscheinlich gekapert”, räumte Reedereichef Viktor Matwejew ein. Auch die finnische Polizei hat nun erklärt, dass sie stets von einer Entführung ausging und eine Lösegeldsumme verlangt wurde. Einen Betrug unter Beteiligung der Besatzungsmitglieder schließt Jan-Olof Nyholm von der finnischen Landespolizei aus. Am Dienstag bestätigte auch das Versicherungsunternehmen des Frachters offiziell Lösegeldforderungen. Die Seeräuber hätten eine Million Euro verlangt und gedroht, andernfalls die Besatzung zu erschießen und das Schiff zu versenken, teilte Renaissance Insurance in Moskau mit.

Wie konnte das Schiff verschwinden?

Die Entführer sollen, nachdem sie den Ärmelkanal passiert hatten, das Navigations- und Ortungssystem des Schiffes zerstört und die Besatzung gezwungen haben, Kurs auf Afrika zu nehmen. Das könnte die wochenlange Verwirrung um den Aufenthaltsort der „Arctic Sea“ erklären. Allerdings sagt Nyholm, die finnische Polizei sei die ganze Zeit über den ungefähren Aufenthalt des Frachters informiert gewesen. Mehr als 20 Länder seien an der Suche beteiligt gewesen. Das Stillschweigen begründet er damit, dass man das Leben der russischen Besatzung nicht gefährden wollte.

Schiffe könnten auch gar nicht einfach so verschwinden, sagt Matthias Visser von der Wasser-Schifffahrtsdirektion (WSD) Nord. Die WSD überwacht wie eine Luftverkehrszentrale den Schiffsverkehr in der Nord- und Ostsee. Mit einer landgestützten Radaranlage werden magnetische Wellen ausgesandt, die die Schiffen zurückschicken – so ist im Prinzip jedes Schiff auffindbar. Schiffe ab einer bestimmten Größe müssen zudem mit einem automatischen Identifikationssystem ausgestattet sein. Damit sind sie zu orten. Allerdings könne dies „wie jedes stromabhängige Gerät vom Schiff auch abgeschaltet werden“, sagt Udo Fox vom Rettungsdienst der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.

Hatte der Frachter wirklich nur Holz geladen?

Der große skandinavische Holz- und Papierhersteller Stora Enso hat zwar erklärt, dass das Schiff nur Holz im Wert von 1,3 Millionen Euro in seinem Auftrag und dem anderer nordischer Holzfirmen nach Algerien transportieren sollte. Holz ist ein Hauptexportgut aus Finnland. Dennoch wird spekuliert, ob noch andere Waren auf dem Schiff waren, die nicht auf den Frachtpapieren vermerkt wurden. Sicherheitsexperten vermuteten in der Moskauer Zeitung „Moskowski Komsomelz“, dass sich russische Waffen, die für ein westafrikanisches Land vorgesehen waren, an Bord der „Arctic Sea“ befunden haben könnten, womöglich unter Duldung russischer Behörden. Denn kurz bevor der 98 Meter lange und 4000 Tonnen schwere Frachter in Jakobstad anlegte und das Holz an Bord nahm, ging er noch im russischen Königsberg vor Anker. Auch dies könne die zögerliche Informationsfreigabe und das große Interesse von Piraten und letztlich der russischen Flotte für einen Holzfrachter erklären.

Eine andere These ist, dass es um Drogen ging – und die Entführung eine Abrechnung verfeindeter krimineller Organisationen war. Das Schiff könne dabei auch als Pfand gedient haben, um Druck auszuüben, wenn die andere Seite eine geheime Fracht zu verbergen gehabt habe, vermutet etwa ein britischer Sicherheitsexperte des Institutes für Marine- Kriegsführung. Gerüchte, dass Nuklearmaterial geschmuggelt werden sollte, wurde von finnischer Seite dementiert.

Warum haben Russen das Schiff befreit, obwohl es einer finnischen Reederei gehört?

Grundsätzlich gelte bei der Zuständigkeit das Flaggenprinzip, erklärt ein Sprecher der Bundespolizei See. Doch die „Arctic Sea“ fuhr unter maltesischer Flagge. „Eventuell haben die russischen Stellen entsprechende Absprachen mit dem Land Malta oder der finnischen Reederei getroffen, dann ist ihr Vorgehen durchaus legal“, sagt der Sprecher.

Was wird aus den angeblichen Piraten?

Wo ein möglicher Prozess gegen die Entführer stattfinden könnte, ist noch unklar. Die acht von der russischen Marine festgenommenen Personen stünden unter Verdacht der groben Erpressung und Kaperei, sagt Nyholm von der finnischen Polizei. Ob Finnland oder Schweden, in dessen Hoheitsgewässern die Kaperei stattgefunden haben soll, eine Auslieferung der Verdächtigen in Moskau beantragen werden, sei offen. Die russische Staatsanwaltschaft teilte mit, dass den Piraten im Fall einer Verurteilung eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren drohe.

Was passiert mit dem Schiff und seiner befreiten Besatzung?

Der Frachter sei beschädigt, erklärte der Direktor der Reederei Solchart, Viktor Matwejew, und müsse nun aufwendig geborgen werden. Eine neue Mannschaft wurde offenbar bereits rekrutiert. Der Vizechef der Reederei erklärte, dass der Frachter doch noch an seinem Bestimmungsort in Algerien ankommen solle. Angehörige der geretteten Seeleute und die russische Seefahrergewerkschaft beklagten unterdessen, dass der Geheimdienst weiter den persönlichen Kontakt verhindere. „Ich weiß bisher nur aus den Nachrichten von der Befreiung“, sagte Jelena Sarezkaja, die Ehefrau des „Arctic Sea“-Kapitäns Sergej Sarezki, der Deutschen Presse-Agentur. Über den Verbleib der Männer machte das russische Verteidigungsministerium zunächst keine Angaben. Die Gewerkschaft forderte, die Seeleute umgehend nach Hause zu fliegen.

Warum ist immer noch so vieles unklar?

Das russische Verteidigungsministerium versprach nach der Befreiung der „Arctic Sea“ am Montag, bei der die Piraten überraschenderweise keine Waffen mehr bei sich gehabt haben sollen, eine lückenlose Aufklärung des Falles. Doch auch am Dienstag gab es nur wenige Informationen. Die acht Verdächtigen werden derzeit an Bord eines russischen Marineschiffes befragt, allerdings ohne Beteiligung der finnischen Behörden. Das Eingeständnis des russischen Nato-Botschafters Dimitri Rogozin, dass in den vergangenen Wochen gezielt falsche Informationen gestreut wurden, um die Rettungsaktion der russischen Flotte nicht zu gefährden, weckt wenig Vertrauen in die neuesten Verlautbarungen aus Moskau.

Müssen andere Reeder nun um die Sicherheit ihrer Schiffe in der Ostsee fürchten?

Die Gefahr einer Wiederholung dieses bisher einmaligen Falles von Piraterie in Nord- und Ostsee schätzt die Bundespolizei See wegen der hohen Überwachungsdichte aus der Luft und von See als gering ein. Ein Anstieg der Piraterie sei eher unwahrscheinlich, meint auch die Generalsekretärin der Internationalen Handelskammer, Angelika Pohlenz. Der Atlantik sei viel unübersichtlicher und damit „sicherer“ für Piraten. Als unwahrscheinlich gilt zumindest, dass es sich bei der Entführung mitten aus der vielbefahrenen Ostsee um „gewöhnliche“ Piraten wie vor Somalia handeln könnte. Piraterie kommt in der Ostsee schon lange nicht mehr vor. Und einen Holzfrachter zu entführen, würde sich für gewöhnliche Piraten auch nicht lohnen, sagen Experten. Ob das aber wirklich beruhigend ist, sei dahingestellt.

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