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Piratenchef Sebastian Nerz: "Politik ist kein einfaches Feld"

Piratenchef Sebastian Nerz über Meinungsbildung in einer basisdemokratischen Partei, Sexismus, Extremismus und die Schwierigkeit, sachlich über Israel und den Holocaust zu reden.

Herr Nerz, wir wollten mit Ihnen ein Interview via Skype führen, um Sie auch sehen zu können. Jetzt haben Sie gar keine Webcam. Wie kann das sein beim Oberpiraten?

Moment mal, liegt hier noch irgendwo eine? Nein, wie es aussieht, habe ich die verliehen. Ich könnte jetzt noch eine holen, aber das wäre recht aufwendig.

Das bringt uns gleich zur ersten Frage: Gibt es in Ihrem Leben Offlinezeiten?

Ja, die gibt es durchaus – wenn ich auch erst in letzter Zeit angefangen habe, ganz bewusst den Rechner auszuschalten.

Ist das Netz gesundheitsschädlich? Sie husten ja schon ganz schön.

Das ist eine Bronchitis, die ich mir in der letzten Woche eingehandelt habe. Ich glaube aber nicht, dass das Netz an sich gesundheitsschädlich ist. Wenn man nur noch vor dem Computer hängt, kann das natürlich negative Nebeneffekte haben.

Wenn schon nicht das Netz krank macht, kann denn die Politik krank machen? Stehen die Piraten vor einem Burn-out?

Politik ist da natürlich durchaus ein gefährdeter Bereich. Aber das trifft die Piratenpartei nicht im Besonderen. Im Gegenteil: Bei uns verteilt sich die Last auf viele Schultern. Wir haben Strukturen, auch technische, mit denen sich Anfragen an verschiedene Teams delegieren lassen.

Trotzdem ist das Piratenprogramm nach wie vor lückenhaft. Sagt man zumindest. Wir würden da nun gern die Probe aufs Exempel machen…

Sehr gern.

... indem wir Sie mit den Themen der Woche konfrontieren. Erstens: Euro-Krise. Wäre ein Hebel beim EFSF die richtige Maßnahme?

Da müsste ich jetzt eigentlich die klassische Antwort geben: dass das ein Thema ist, zu dem wir als Partei noch keine Aussage erarbeitet haben. Ich persönlich glaube aber, dass das ganz große Problem bei so einem Hebel ist, dass derzeit niemand überschauen kann, welche Risiken man damit eingehen würde. Wir reden ja nicht nur davon, dass man jetzt eine wundersame Geldvermehrung von ein paar hundert Milliarden auf ein paar Billionen hat. Wir reden davon, dass man Geld von Banken nur zum Teil absichert und damit unter Umständen die nächste Bankenrettung vorprogrammiert.

Zweites Thema: Schuldenschnitt.

Ob und zu welchem Zeitpunkt ich einen Schuldenschnitt für Griechenland begrüße, kann ich nicht genau sagen. Einerseits hat die Partei dazu noch keine Haltung, andererseits kenne ich die griechische Wirtschaft nicht gut genug. Langfristig müssen wir darüber reden, wie der Finanzmarkt der Zukunft insgesamt aussehen soll. Ich habe den Eindruck, dass wir, wenn wir über Griechenland reden, zu viel Angst davor haben, was mit Banken in anderen Ländern geschieht.

Drittes Thema: Frauenquote.

Quoten sind ein interessantes Thema.

So ist es. Brauchen wir denn eine Quote für Frauen in Führungsämtern?

Eine Frauenquote kann ein Mittel sein, um eingefahrene Strukturen aufzubrechen. Wenn es sich in einem gesellschaftlichen Feld eingebürgert hat, dass dort nur Männer arbeiten, dann ist es für eine Frau beinahe unmöglich, in dieses Feld einzudringen. Dann muss Gleichberechtigung durch eine temporäre Zwangsmaßnahme erreicht werden. Eine solche Quote kann aber kein langfristiges Mittel sein, weil sie auch ein Stück weit diskriminierend für die Frauen ist.

Wann führen die Piraten eine Quote ein?

Die Piratenpartei hat dieses Problem nicht. Bei uns ist es für eine Frau nicht schwierig, in Entscheidungspositionen vorzurücken. Wir haben eher das Problem, dass wir zu wenige Frauen in der Partei haben. Da müsste man schon einen Zwangseintritt einführen.

Interessantes Modell. Wie kann man die Piraten für Frauen attraktiver machen?

Wir müssen zeigen, dass wir keine sexistische Partei sind – und überlegen, wie wir unsere Strukturen verändern können, um für Frauen attraktiver zu werden.

Gibt es da Ideen?

Nichts, was spruchreif wäre.

Lesen Sie auf Seite 2: Steuersenkungen, Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Haltung der Piraten zu den Grünen

Gut, dann wechseln wir schnell das Thema: Stichwort Steuersenkungen.

Wir haben noch kein weitergehendes Wirtschafts- und Finanzprogramm. Einerseits braucht der Staat Geld, andererseits darf er nicht zu tief eingreifen. Dieses Thema ist bei uns noch in der Diskussion, die übrigens sehr erhitzt ist.

Wir ersparen uns mal die Details und fahren fort. Ein weiteres Thema, über das man erhitzt diskutieren kann, sind die Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Es gab eine Abstimmung in der Piratenpartei, die militärische Interventionen zur Ressourcensicherung sowie den Großteil der sonstigen Einsätze, darunter auch der Krieg in Afghanistan, abgelehnt hat.

Damit wären Sie ja dann fast in der Linken angekommen. Nächstes Thema daher: die Occupy-Bewegungen. Angefressen, dass die Piraten hier nicht vorne dabei sind?

Die Occupy-Bewegung möchte unabhängig bleiben. Das respektieren wir.

Aber da schläft doch ein großes Wählerpotential. Das ist doch verführerisch.

Wenn man Politik ausschließlich danach richtet, was man an Macht erreichen kann, landet man irgendwann an einer Stelle, an der man nie landen wollte.

So wie die Grünen? Haben die ihre Ideale für die Macht verraten?

Ja, haben sie. Die Grünen haben große Teile ihrer basisdemokratischen, transparenzpolitischen Ideale verraten.

Damit zum letzten unserer tagesaktuellen Themen, zum Staatstrojaner. Hätte man da mehr Kapital draus schlagen können?

Wir hätten nach unserer ersten, sehr offensiven Verurteilung vielleicht noch ein zweites Mal Stellung nehmen müssen. Wobei ich glaube, dass das medial kaum aufgegriffen worden wäre. Das ist das Problem, das man als kleine Partei hat: dass andere einfach interessanter für die Medien sind. Auch wenn das unser Kernthema ist und Innenminister Friedrich überhaupt keine Ahnung hat.

Ist so was Teil eines Lernprozesses?

Ja, Politik ist kein einfaches Feld.

Gehört dazu auch das Lernen von politischen Regeln? Dass man beispielsweise keine Fraktionsgelder für eine Parteireise beantragt, wie jüngst in Berlin geschehen?

Uns ist klar, dass es Unterschiede zwischen Fraktion und Partei gibt. Die exakten Abrechnungsregeln sind komplex. Da müssen wir uns noch genau einarbeiten.

Erfahren Sie auf Seite 3, ob die Piraten der CDU emotional nahe sind

Reden wir weiter über Lernprozesse: Muss sich die Piratenpartei in ihren Statuten dahingehend ändern, dass keine ehemaligen NPD-Mitglieder in Parteiämter gelangen?

Wir haben ein klares Bekenntnis gegen Extremismus in der Satzung. Jemand, der extremistisches oder menschenverachtendes Gedankengut hegt, hat bei uns keinen Platz. Ob der davor in der NPD war oder nicht, ist völlig unerheblich. Der Gesellschaft würde in der Diskussion ein bisschen weniger Emotion gut tun.

Inwiefern?

Als Politiker muss man sehr genau aufpassen, was man beim Thema Extremismus sagt. Man wird schnell als Nazi beschimpft, weil man Menschen eine persönliche Weiterentwicklung zugesteht.

Gibt es noch mehr Themenfelder, die Ihrer Meinung nach zu sehr aufgeladen sind?

Puhh, ich begebe mich jetzt auf sehr dünnes Eis…

Nur zu, keine Angst.

Immer wenn wir über Israel und israelische Politik diskutieren. Da schwingt die Angst mit, als Nazi dazustehen oder den Holocaust zu relativieren. Eine wirklich sachliche Diskussion wird dadurch sehr erschwert.

Welche Rolle spielt eigentlich nationale Gesinnung für die Piraten?

Die Piratenpartei ist aus einer internationalen Bewegung entstanden und damit spielen Nationalstaaten bei uns keine große Rolle – so wie auch viele unserer heutigen Probleme gar nicht mehr auf dieser Ebene behoben werden können.

Ihren größten Erfolg haben Sie bisher regional gefeiert: in Berlin. Was erwarten Sie eigentlich von den Berliner Piraten?

Ich erwarte, dass sie demonstrieren, dass wir unsere politischen Ideale auch im politischen Alltag leben können.

Hängt daran der bundespolitische Erfolg?

Der hängt von unserem bundespolitischen Auftreten ab. Zum Beispiel davon, ob wir Fragen zur Euro-Krise bis zur Bundestagswahl beantworten können.

Auch ohne Euro-Expertise: Die Umfragen sehen derzeit gut aus. Haben Sie eigentlich schon Kontakt zu SPD und Grünen aufgenommen? Oder sogar zur FDP?

Wir haben natürlich Kontakte zu anderen Parteien. Aber es gibt keinerlei Verhandlungen mit irgendwem.

Auf Twitter sieht man, dass Sie auch gerne mit Christdemokraten diskutieren. Sie waren selbst mal einer. Ist das alte Verbundenheit? Oder eine ganz neue Option?

Eine besondere emotionale Nähe zur CDU können Sie bei uns lange suchen.

Wünschen Sie sich als Vorsitzender trotzdem manchmal, die Piraten wären ein bisschen mehr wie die Union? Eine Leitantragspartei mit einer mächtigen Führung?

Es wäre in der politischen Arbeit natürlich viel einfacher, wenn ich Thesen formulieren könnte, die damit schon Parteithesen sind. Diese Einfachheit aber ist es nicht wert, unsere Ziele dafür aufzugeben. Das widerspräche allem, wofür die Piraten heute stehen. Außerdem haben wir die technischen Möglichkeiten, auch unter Einbeziehung aller Mitglieder zu einem Vollprogramm zu gelangen.

Trotzdem sind Sie noch lange nicht fertig. Sind Sie da eigentlich froh, dass die schwarz-gelbe Regierung noch hält?

Auch eine Bundestagswahl fällt nicht vom Himmel. Wir hätten also in jedem Fall noch Zeit, uns mit wesentlichen programmatischen Fragen zu beschäftigen. Aber nach der Wahl könnte tatsächlich eine schwierige Situation für die neuen Abgeordneten entstehen. Dann müssten sie vielleicht Entscheidungen treffen, die in der Kürze der Zeit mit der Partei nicht komplett abgestimmt werden können.

Moment: Heißt das, das System Piraten funktioniert nur außerparlamentarisch?

Das würde ich nicht sagen. Die Abgeordneten würden viel Feedback aus der Partei bekommen, und sie wären auch angehalten, dieses Feedback und die Expertise aus der Partei zu nutzen.

Und wenn ein Abgeordneter dann trotzdem gegen die Mehrheit der Partei stimmt?

Ich bin zuversichtlich, dass das akzeptiert würde. Abgeordnete sind ihrem Gewissen verpflichtet, nicht der Partei.

Mit Nerz sprachen Johannes Schneider und Christian Tretbar.

Zur Person Sebastian Nerz:

VERGANGENHEIT

Sebastian Nerz, 28, geboren im Juli 1983 im Baden-Württembergischen Reutlingen, studierte nach dem Zivildienst Bioinformatik, war 2001 bis 2004 CDU-Mitglied und trat 2009 den Piraten bei.

GEGENWART

Im Mai 2011 kam es zum Wachwechsel auf der Brücke: Nerz wurde zum Bundesvorsitzenden jener gewählt, die er jüngst nach dem Wahlerfolg in Berlin als sozialliberale Grundrechtspartei kennzeichnete. Seine eigenen Schwerpunkte: Bürgerrechte und die Implikationen neuer Techniken.

ZUKUNFT

Nerz ist nach eigenem Bekunden „glücklich verheiratet“ und bringt eine ganz wichtige Voraussetzung für eine eventuelle Karriere als Berufspolitiker mit: Er kommt mit wenig Schlaf aus – vier bis fünf Stunden reichen ihm, sagt er.

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