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Polen: Der Fall des ersten Dominosteins

1989 zwang Polens Opposition die Regierung an den Runden Tisch. Die Ausgangsposition für die Oppositionsbewegung war denkbar schlecht.

Es ist nicht einfach, Henryk Wujec zu finden. Sein Büro liegt in einem Wohnhaus in der Ulica Narbutta, am Rande des Zentrums von Warschau. Offenbar ist Wujec gewohnt, auf umherirrenden Besuch etwas länger zu warten. Es passt zu dem Mann, der sich nie in den Vordergrund gedrängt hat. Über Jahrzehnte prägte er die demokratische Opposition Polens, gehörte zu den maßgeblichen Persönlichkeiten der Gewerkschaft Solidarität, ist aber nie aus dem Schatten der ganz Großen getreten. Wujec ist der Gegenentwurf zu einem modernen Machtpolitiker. Der Physiker repräsentiert den Archetyp jenes sachkundigen Wissenschaftlers und sozial Engagierten, der im Interesse der Menschen und zum Wohl des Landes bereit war, sogar die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen.

Auch in diesen Wochen, wenn in Polen der 20. Jahrestag der Beratungen am Runden Tisch begangen wird, hält er sich zurück. Im Scheinwerferlicht stehen die eloquenten Kämpfer gegen den Kommunismus: Adam Michnik, heute Chefredakteur von „Gazeta Wyborcza“, der größten und einflussreichste polnischen Tageszeitung, Tadeusz Mazowiecki, erster frei gewählter Premierminister Polens, oder natürlich Lech Walesa. Sie alle suchten seit den späten siebziger Jahren nach einem neuen Gesellschaftsentwurf in Polen. Sie wollten den Wechsel. Doch dazu mussten sie das Denken der Menschen dem Einfluss des Regimes entziehen. Sie bauten deshalb unter großer Gefahr einen alternativen Wissenschaftsbetrieb auf. Später waren sie die Vordenker, die während der berühmten Streiks auf der Leninwerft in Danzig im August 1980 die Ideen lieferten. Sie erarbeiteten das intellektuelle Gerüst für die Gründung der Gewerkschaft Solidarität und entwarfen neun Jahre später die Konzepte für die Gespräche mit dem herrschenden kommunistischen Regime am Runden Tisch.

Die Ausgangsposition für die Oppositionsbewegung war 1989 allerdings denkbar schlecht. „Wir waren eigentlich am Ende“, beschreibt Wujec den damaligen Zustand der Gewerkschaft Solidarität. Die Jahre des Kriegsrechtes hatten den Widerstandswillen ausgehöhlt. „Die Leute hatten Angst, ihre Arbeit zu verlieren oder verhaftet zu werden.“ Er mache niemandem einen Vorwurf, er wisse wovon er rede, da er selbst die Erfahrung machen musste, für seine Überzeugung ins Gefängnis geworfen zu werden.

Dennoch arbeitete der harte Kern der Opposition im Untergrund weiter. Sie waren überzeugt, dass die Zeit gegen das verhasste Regime lief. „General Jaruzelski hatte den Polen Ruhe und ein besseres Leben versprochen. Aber die wirtschaftliche Lage wurde von Tag zu Tag schlimmer“, sagt Wujec. Ende der 80er Jahre war es dann so weit. Die Geschäfte waren leer, jede Hoffnung auf Besserung verflogen. In dieser Situation war das kommunistische Regime nach erbittert geführten internen Machtkämpfen zu Gesprächen mit der Opposition bereit.

Allerdings taten die Machthaber diesen Schritt in der Zuversicht des vermeintlich sicheren Siegers. „Die waren überzeugt, dass das Volk hinter ihnen steht“, erinnert sich Henryk Wujec, nur deshalb hätten sie bei den Gesprächen am Runden Tisch den halbfreien Wahlen am 4. Juni 1989 zugestimmt. Zudem rechneten die Kommunisten wohl damit, dass die schwer angeschlagene Opposition ohne straffen Parteiapparat keinen Wahlkampf zur Mobilisierung der Wähler führen könnte. „Wir hatten keine Mittel“, sagt Wujec, „keine Struktur, kein Papier, kein Radio, kein Fernsehen, nichts.“ Außerdem sollten lediglich 35 Prozent der Sitze im Parlament frei vergeben werden. Das Regime hatte die Reformen lediglich als Ventil für den Unmut der Polen vorgesehen. Nie dachten sie daran, die Macht wirklich abzugeben.

„Wir selbst hatten gehofft, vielleicht 20 Prozent der Stimmen zu gewinnen“, erinnert sich Wujec. „Doch dann kam alles ganz anders – wir haben alles gewonnen!“ Es zeigte sich, dass die Kommunistische Partei praktisch keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung hatte. Diese Niederlage wirkte wie ein Dammbruch, die Partei sollte innerhalb weniger Monate in sich zusammenbrechen. Zwar wurde General Jaruzelski im Juli 1989 von einer Versammlung aus Sejm und Senat mit knapper Mehrheit noch zum ersten Präsidenten gewählt. Doch die Regierungsbildung unter den Kommunisten scheiterte kläglich. Das war die Stunde des Oppositionspolitikers Tadeusz Mazowiecki, der als erster nichtkommunistischer Premier im Ostblock im August 1989 ein Kabinett bildete. Ende 1990 wurde in der ersten freien Direktwahl Lech Walesa vom Volk zum Präsidenten gewählt. Im Oktober 1991 gab es erstmals freie Parlaments- und Senatswahlen.

Wujec selbst wurde damals in den Sejm gewählt, wo er über zehn Jahre Abgeordneter war. Heute arbeitet der 69-Jährige für die Stiftung „Fundacja dla Polski“, einer aus Frankreich unterstützten Einrichtung, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gegründet wurde, um Polen beim Start in ein neues Zeitalter zu unterstützen. Am Runden Tisch sei der kommunistische Staat in seinen Grundfesten erschüttert worden. „In Polen wurde der erste Dominostein angestoßen, der eine Kettenreaktion auslöste und die Freiheit für viele Völker brachte“, sagt Wujec. „Erst nach uns kam die Öffnung der Grenze in Ungarn, danach der Fall der Mauer in Deutschland.“ Diese Reihenfolge ist ihm besonders wichtig.

Knut Krohn

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