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Politik: Politik mit Verfallsdatum

Von Stephan-Andreas Casdorff

Es geht schon nicht mehr um die Frage, ob Gerhard Schröder Kanzler bleibt oder nicht. Kann sein, dass der Aufschwung rechtzeitig vor der Bundestagswahl kommt, aber dass er Schröder dann noch hilft – das kann auch nicht sein. Wer in die SPDVorstandssitzung hineinlauschte, wird das gehört haben. Der Vorsitzende Franz Müntefering ließ zum Thema „Populismus und Opposition“ debattieren. Was auf die Union gemünzt sein sollte, wirkt doch (unfreiwillig) zukunftsgerichtet. Dahinter steht eine Frage, die weiter reicht als bis 2006: Was lässt sich der Bürger noch alles erzählen, ehe er die Demokratie straft?

Die Wähler sind nicht nur Kunden, warnt der Bundesphilosoph Habermas. Darin zeigt sich das erste Problem: Dieser Wust „rollender Reformen“ müsste mit einer Politik verbunden sein, die vor den Erfordernissen nicht offenkundig abdankt. Die Bürger ärgern sich über die Praxisgebühr, weil die Parteien so viel darüber reden. Und die Rücknahme der Zusatzversicherung für den Zahnersatz wird zum Politikersatz. Es fehlt an Orientierungskraft.

Damit verwischt die Trennlinie zwischen Protest-Demokratie und herrschender Politik, wie es in der „Zeit“ hieß. Aber nicht nur für den Osten, sondern für das ganze Land. Denn Deutschland ist geeint: in der Klage über die Lasten und Unzumutbarkeiten. In Bochum reden die Menschen nicht anders als in Leipzig; im Westen glauben sie nur eher, dass Protest vergeblich ist. Die Zäsur von 1989, die vor allem die Chance der Freiheit nicht nur von etwas, sondern der Freiheit zu etwas deutlich machte, ist dort nicht angekommen. Die Frustration bricht sich Bahn.

Die Gesellschaft ist kurz davor, die Politik auch. Nur elf Prozent der 603 Bundestagsabgeordneten glauben, dass die Politik mehr Einfluss habe als die Wirtschaft, 60 Prozent halten ihren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung für gering. Und wahr ist: Ob Oppositionsführer, Regierungschef oder Spitzengewerkschafter, sie alle beklagen den Verlust der Arbeitsplätze, aber stoppen kann ihn augenscheinlich keiner. So aber wirkt Politik nur noch beschreibend, jedenfalls ist es das, was die Bürger-Wähler hören.

Es ist da schon schlimm genug, dass sich die Menschen allein gelassen fühlen. Schlimmer wird es noch, wenn aus dem bloßen Gefühl, dass die Parteien wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt nicht zusammenhalten können, falsch verstandene Gewissheit werden sollte. Jeremy Rifkin beschreibt den Unterschied zwischen den USA und Deutschland so: Die USA versprechen Freiheit, Deutschland verspricht Freiheit und Sicherheit. Das trifft es. Die Menschen hier wollen sicher sein, festen Grund unter den Füßen haben, Arbeit. Wenn zum Beispiel die SPD von lebenslangem Lernen spricht, dann ist das für 70 Prozent aller Bundesbürger keine Chance, keine Freiheit zu etwas, sondern eine Drohung.

Noch wird nur die Politik kritisiert, nicht grundsätzlich die Demokratie. Aber die Gefahr wächst. „Weimar leuchtet“, schreibt der „stern“. Weimar ist Chiffre für den Verlust des Vertrauens in die Lösungsfähigkeit der Politik, einen Vertrauensverlust bis hin zum Verfall. Vor diesem Hintergrund ist der Dreischritt zu sehen, den wir erleben: Die Verdrossenheit der Bürger galt erst den Parteien. Gegenwärtig geht es um die Integrität der Spitzenpolitiker. Als nächstes werden die Menschen sich abwenden und sagen: Das hat mit unserem Leben nichts zu tun, und ändern kann die Politik sowieso nichts. Das könnte dann die Stunde von Populisten sein – außerhalb der parlamentarischen Opposition.

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