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Politik: „Politik wird nicht von Vernunft bestimmt“

Der Wissenschaftler Gerd Bosbach über die nicht stattfindende Überalterung der Gesellschaft und warum er sich von der Politik hinters Licht geführt sieht

Herr Bosbach, Scharen von Politikern, Interessenverbänden, Wissenschaftlern und auch die Medien sorgen sich um die Überalterung der Gesellschaft. Warum?

Dafür gibt es zwei gute Argumente. Erstens: Die Daten der Warner basieren auf einer 50Jahre-Berechnung des Statistischen Bundesamtes. Aber 50 Jahre in die Zukunft hinein zu gucken, ist nicht möglich. Zweitens: Selbst wenn alles so eintrifft, wie die 50-Jahre-Berechnung vorhersagt, erscheinen die Ergebnisse nur dann dramatisch, wenn man viele gewichtige Faktoren nicht berücksichtigt.

Zu Ihrem ersten Argument: Warum ist eine 50-Jahres-Prognose nicht möglich?

Es gibt in der menschlichen Entwicklung immer wieder Strukturbrüche, die nicht vorhersehbar sind. Am einfachsten ist das zu erkennen, wenn man in die Vergangenheit blickt. Hätte man 1950 versucht, die Bevölkerung für das Jahr 2000 vorauszuberechnen, hätte man die geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre, den Pillenknick, den Zuzug von Arbeitsimmigranten aus Südeuropa und der Türkei, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Einwanderung von knapp drei Millionen Aussiedlern aus dem Osten und den Trend zu Kleinfamilien und Singleleben übersehen, ja übersehen müssen.

Ihr zweites Argument: Selbst wenn alle Prognosen für 2050 eintreten, ist das halb so schlimm. Warum?

Was uns vermittelt wird, ist der beschränkte Blick auf das zahlenmäßige Verhältnis zwischen der mittleren Generation, die so genannten Erwerbsfähigen, und der älteren Generation, die Rente bezieht. Diese Zahlen vom Statistischen Bundesamt werden immer in den Vordergrund gespielt und wirken sehr dramatisch. Sie besagen, dass heute 100 Erwerbsfähige 44 Rentner und im Jahr 2050 100 Erwerbsfähige 78 Rentner ernähren müssen. Diese annähernde Verdopplung wirkt als völlige Überforderung der mittleren Generation. Dabei werden aber viele wesentliche Faktoren nicht beachtet.

Welche?

Erstens: Die mittlere Generation muss nicht nur die Rentner ernähren, sondern auch die Kinder und Jugendlichen. Da die aber weniger werden, ist die Belastung der mittleren Generation geringer. Zweitens: Bei dem Panikszenario wird davon ausgegangen, dass die Menschen im Jahr 2050 sechs Jahre länger leben, aber mit dem gleichen Alter wie heute in Rente gehen. Das ist illusorisch.

Welche Rolle spielt die Produktivität?

Die Panikszenarien berücksichtigen nicht, dass sich die Produktivität in den nächsten 50 Jahren erhöhen wird. Selbst stark abgebremst auf nur ein bis 1,5 Prozent Steigerung pro Jahr, erwirtschaften wir im Jahr 2050 rund drei Viertel mehr als heute. Das versetzt uns in die Lage, mehr nicht arbeitende Menschen zu versorgen.

Aber Sie können doch auch nicht in die Zukunft blicken.

Nein, ich bin auch kein Hellseher. Also blicken wir in die Vergangenheit. Wir haben im letzten Jahrhundert eine Zunahme der Lebenserwartung und eine Abnahme der Kinderzahlen erlebt, bei immensem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme. Die Lebenserwartung ist von 1900 bis 2000 um über 30 Jahre gestiegen. Jetzt soll die Lebenserwartung bis 2050 um weitere sechs Jahre steigen. Das gleiche gilt für die Geburtenrate. Im Jahr 1900 waren 44 Prozent der Bevölkerung Kinder oder Jugendliche, 2000 waren es noch 21 Prozent. Bis 2050 soll der Anteil um weitere fünf Prozent auf circa 16 Prozent fallen. Die wirklich großen Veränderungen haben wir problemlos überstanden.

Das hört sich ja alles ganz beruhigend an. Warum aber hört die Politik nicht auf Sie?

Da kann ich nur spekulieren. Wir haben in Deutschland eine Menge Probleme, die um die Finanzierung der Sozialsysteme kreisen. Das liegt im Wesentlichen daran, dass es nicht funktioniert, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Jetzt gibt es für die Politik zwei Möglichkeiten. Die erste ist: Sie gesteht ein, dass sie die Arbeitslosigkeit nicht reduzieren kann und sucht weiter nach neuen Wegen. Dann könnte man sie für die Probleme verantwortlich machen. Die andere: Die Politik benutzt die Überalterung der Gesellschaft als eine Art Naturgesetz und sagt, wir können ja nichts dafür. Damit spricht sich die Politik von jeder Verantwortung frei und schiebt die Schuld indirekt den Menschen zu, die immer älter werden und immer weniger Kinder bekommen. Der zweite Weg ist für die Politiker angenehmer. Auch die Versicherungswirtschaft hat ein Interesse an verunsicherten Menschen, die ihr Geld für die Rente bei ihnen anlegen.

Fühlen Sie sich von der Politik verschaukelt?

Ja, ich fühle mich für dumm verkauft. Die Begründungen der Politik für den Reformprozess sind ein Angriff auf den gesunden Menschenverstand. Plötzlich werden Lohnnebenkosten als die wichtigste Sache der Welt dargestellt. Die Unternehmer interessieren die Gesamtkosten. Darin sind die Löhne ein Bestandteil. Von den Gesamtlohnkosten wiederum sind kleinere Teile Lohnnebenkosten. Und die sollen die Unternehmer scharenweise in den Ruin treiben? Gleichzeitig verkraften die exportierenden Firmen aber die immense Verteuerung des Euro gegenüber dem Dollar und steigern sogar die Exporte. Auch die aktuellen Rekordpreise für den Grundstoff Öl verkraftet die Wirtschaft.

Haben Sie die Hoffnung, dass Sie von einem einsamen Rufer im Wald zu einem Kopf einer Bewegung werden?

Natürlich träume ich noch von dem Einfluss der Vernunft auf die Politik, an den Erfolg glaube ich allerdings nicht. Die Politik wird nicht von Vernunft bestimmt, sondern von Interessen.

Das Gespräch führte Lutz Haverkamp.

Weitere Informationen und Kontakt:

www.memo.uni-bremen.de/docs/m0404.pdf

bosbach@rheinahrcampus.de

Gerd Bosbach lehrt und forscht an der FH Koblenz, Außenstelle Remagen, im Fachbereich Betriebs- und Sozialwirtschaft und hat unter anderem beim Statistischen Bundesamt gearbeitet.

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