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Maurer der Erinnerung. Nahe der Gedenkstätte Groß Glienicker See wird im September 2014 ein Mauersegment ausgebessert.

© dpa

H.A.Winklers "Geschichte des Westens": Der Lauf der Welt

Von 1945 bis 1991: Der Historiker Heinrich August Winkler hat den dritten Band seiner Geschichte des Westens geschrieben - auch als Zeitzeuge

Das Zeitalter der Globalisierung ist auch in der deutschen Geschichtswissenschaft eingezogen. Nach Jürgen Osterhammel, der vor fünf Jahren eine stupende Totalgeschichte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte, legt nun der Berliner Historiker Heinrich August Winkler ein ähnlich schwergewichtiges Buch vor. Aber beim dritten Band seiner „Geschichte des Westens“ handelt es sich in Wahrheit um eine politische Geschichte der ganzen Welt zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Jahr 1991, dem formellen Ende der Sowjetunion. Die Dichte und Vielschichtigkeit des Werkes von Osterhammel, so viel sei an dieser Stelle schon gesagt, erreicht Winkler dabei in seiner gewaltigen Zusammenschau von Staaten und Kontinenten nicht.

Winkler hat ein sehr moralisches Buch geschrieben, orientiert an den Ideen der Amerikanischen und Französischen Revolution, die in ihrer Gesamtheit das normative Projekt des Westens ausmachen, voran die unveräußerlichen Menschenrechte. Daher spart Winkler, den Helsinki-Prozess mit seinen Folgen für 1989 vor Augen, nicht mit Kritik an Großbritannien und Frankreich während der Zeit des Dekolonialisierungsprozesses gut 30 Jahre zuvor. Israels Staatsgründung, verbunden mit Bombenanschlägen, Massakern und Vertreibungen, wird ebenso kritisch gewürdigt wie das bewusste Hineinsteuern der USA in den Vietnamkrieg. In fünf großen Abschnitten wird der Zeitraum dieses halben Jahrhunderts behandelt: die Anfänge des Kalten Krieges, die Zeit vom Koreakrieg bis zur Kubakrise, der Weg von der Konfrontation zur allmählichen Entspannung, die erneute Phase der Ost-West-Konfrontation, gefolgt und beschlossen durch das Ende des Kalten Krieges.

Über weite Strecken ist Winklers nüchterne Schilderung eine Geschichte der großen Akteure in der Weltpolitik. Aber auch kleinere Staaten wie Portugal im Westen mit seinem afrikanischen Kolonialreich oder Ungarn und Polen, die als leidenschaftliche Gegner eines Status quo-Denkens wichtige Beiträge für die Beendigung des Kalten Krieges leisteten, bekommen in Winklers Werk den Stellenwert, der ihnen zukommt. Unterbrechungen im Lesefluss sind wegen der chronologischen Abfolge unvermeidlich, daher kommt es auf eine gelungene Dramaturgie, und das heißt die Übergänge, an. Sie gelingen Winkler in aller Regel, etwa, als es um das Ende der Staatskrise in Frankreich im Mai 1968 und die parallel dazu verlaufende dritte Lesung der Notstandsgesetze in Deutschland geht.

Ab dem Jahr 1968 wird der Zeitzeuge erkennbar

Erst auf der Hälfte des Textes beginnt Winkler mit größeren strukturgeschichtlichen Passagen, die über gelegentliche Ausflüge in die Ideengeschichte und das Zitieren von Wirtschaftsstatistiken hinausgehen. Man hätte sie sich wesentlich häufiger bei der Skizzierung der Situation in einzelnen Staaten oder Staatengruppen gewünscht. Und es ist wohl kein Zufall, dass das Buch spätestens mit der Behandlung des Mai 1968 sprunghaft jene Verdichtung erreicht, die ihm im ersten Teil über weite Strecken fehlt. Hier schreibt nun erkennbar der Zeitzeuge, der politisch engagierte Hochschullehrer, der als junger Professor den studentischen Protest mit einiger Verspätung im badischen Freiburg erlebte. Interessant ist Winklers Vergleich zwischen dem Jahr 1848, der letzten Revolution, die fast den gesamten europäischen Westen erreichte, in Baden besonders viele Anhänger hatte, und 1968. Winkler bescheinigt diesem Jahr des studentischen Protests interkontinentale Dimensionen, jedoch seien die inneren und äußeren Folgen für die am meisten betroffenen Länder vergleichsweise gering gewesen.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. C.H.Beck Verlag München 2014. 1258 Seiten, 39,95 Euro.
Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. C.H.Beck Verlag München 2014. 1258 Seiten, 39,95 Euro.

© C.H.Beck

Je mehr sich Winkler dem Höhepunkt des Buches, dem Jahr 1989 und dem Fall der Berliner Mauer nähert, umso ausführlicher werden die Passagen über die bundesrepublikanische Innen- und Außenpolitik, die Entwicklungen in der DDR, die Rolle der vier Siegermächte, die anfänglichen Widerstände in London und Paris, die Spielräume der handelnden Akteure. Besonders eindringlich gelingt die Passage, in der der Historiker – damals Beobachter aus nächster Nähe – den Konflikt zwischen Willy Brandt und Oskar Lafontaine über die Notwendigkeit der Wiedervereinigung beschreibt.

Erst auf den letzten Seiten des Buches gibt Winkler, der Chronist der Weltpolitik, seine bis dahin geübte Zurückhaltung bei Interpretationen und Wertungen auf. Und wieder einmal, wie schon beim ersten Band der Geschichte des Westens, der früher hätte erscheinen müssen, kann es sein, dass auch der dritte von den Entwicklungen und Geschehnissen in Deutschland und in der Weltpolitik überholt worden ist. Denn es ist seit Anfang des Jahres keineswegs mehr ausgemacht, dass der Ost-West-Konflikt – Winklers beherrschendes Thema im aktuellen Werk – der Vergangenheit angehört. Aber der nach dem Tod von Hans-Ulrich Wehler wohl bedeutendste deutsche Historiker hat ja noch eine vierte Chance.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. C.H.Beck Verlag München 2014. 1258 Seiten, 39,95 Euro.

Jochen Thies

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