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"Die Akte Aufbau Ost wird nicht zugeklappt", versichert die Bundesregierung

© Jens Wolf/dpa

Hans Joachim Meyers Autobiographie: Ossi-Herz

Hans Joachim Meyer liefert in seiner Autobiographie "In keiner Schublade" einen ungewöhnlichen Blick auf die deutsche Einheit. Eine Rezension

Ein biografischer Rückblick von bald achthundert Seiten? Zu viel des Guten? Aber in der Lebensbeschreibung von Hans Joachim Meyer, dem langjährigen sächsischen Wissenschaftsminister, der in gleicher Rolle bereits der DDR-Regierung von Lothar de Maizière angehörte, steckt ein eindrucksvolles Zeugnis jener turbulenten Nachwende-Ära, die einmal zu den wichtigsten Kapiteln der neueren deutschen Geschichte gezählt werden wird. Man erfährt viel darüber, wie sich der innere Aufbau der neuen Länder vollzog – konkret und instruktiv exemplifiziert an einem Fall, der Wissenschaft- und Bildungspolitik. Vor allem aber zieht sich durch das ganze Buch, teils ausdrücklich, teils verborgen, das Ringen und Rechten mit einem der zentralen Themen der deutschen Vereinigung: das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen und wie es den Einheitsprozess durchdrang.

"Mentale Minderheit"

Denn immer wieder kommt Meyers Bericht auf den wunden Punkt zurück, den die Einheit aus ostdeutscher Sicht hatte: dass sie, wie er formuliert, asymmetrisch war und auch nur asymmetrisch sein konnte. Sie tangierte die Westdeutschen nur begrenzt – von der enormen finanziellen Belastung abgesehen, die Meyer als „außerordentliche Solidaritätsleistung“ ausdrücklich würdigt. Doch das Leben der Ostdeutschen krempelte sie nicht nur um, sondern machte sie zu einer „mentalen Minderheit“ im vereinigten Land. Das ist für Meyer eine so fundamentale Tatsache, dass er die verbreitete Ansicht, diese Asymmetrie hätte durch eine gemeinsame Verfassung oder einen verzögerten Übergang gemildert werden können, als Illusion abweist.

Selten ist auch das Dilemma so nachvollziehbar beschrieben, in das diese Situation die Ostdeutschen brachte. Es ist das Leben in dem Widerspruch, mit der Einheit den Staat, aber nicht den Ort der eigenen Existenz gewechselt zu haben: „Wir wollten der Bundesrepublik beitreten und doch wir selbst bleiben.“ Meyer, der katholische Bildungsbürger, weint der DDR keine Träne nach, er hat sein DDR-Leben, obwohl Professor an der Humboldt-Universität, in demonstrativer Distanz zu ihrem ideologischen Anspruch geführt. Aber er verleugnet nicht seine Prägung durch Herkunft und DDR- Existenz: sein „Ossi-Herz“ (Meyer). Das Hineinwachsen in das neue, gewünschte, doch zwangsläufig von der Bundesrepublik dominierte Deutschland stellt sich ihm nicht als Selbstaufgabe, sondern als Probe der Selbstbehauptung dar.

Dabei denkt Meyer nicht im Traume daran, die DDR schönzureden. Aber er wehrt sich als Politiker vehement dagegen, ihre Universitäten und Hochschulen sozusagen zum Abbruch freizugeben – er bekennt, dass das Verdikt des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft von 1990, die DDR sei eine „wissenschaftliche Wüste“, für ihn eine „schockierende Erfahrung“ bleibt (auch wenn es sich nur auf die Sozialwissenschaften bezog, wo es so unberechtigt nicht war). Es ist das Übermaß der Westbestimmung der Einheit, unter dem er leidet, weil sie, ihrer Unvermeidbarkeit zum Trotz, die Wirklichkeit des Ostens entwertet. Wenn zum Maßstab für die Erneuerung der DDR die Überzeugung wird, nur „die Fiktion der Stunde Null könne den wahren Neubeginn bringen“, dann, so argumentiert er, werde die neu entstandene Ordnung im Osten nicht wirklich Fuß fassen.

Er reibt sich an dem Einfluss der '68er

Eine weitere Belastung findet Meyer in der fatalen Unterbewertung der Rolle der Ostdeutschen beim Neuaufbau. Er verhehlt nicht, dass die DDR-Hochschulen zum Beispiel nicht gerade zu den Protagonisten der friedlichen Revolution gehörten, und er lässt keinen Zweifel daran, dass die westdeutschen Professoren, die den ostdeutschen Universitäten nach der Wende in großer Zahl zu Hilfe eilten, notwendig waren. Doch die Führungskerne der Hochschulen, hebt er hervor, kamen letztlich doch aus den Reihen der ostdeutschen Erneuerer – zumindest, so seine selbstbewusste Anmerkung, in Sachsen. Und selbst für das Bildungswesen der DDR, dem selten ein gutes Wort nachgesagt wird, bricht er eine Lanze: es sei zwar „hochideologisiert“ gewesen, „aber in seinem fachlichen Kernbestand solide und anwendungsorientiert“. Was die Studierfähigkeit der DDR-Abiturienten gezeigt habe.

Vor allem schmerzt es ihn, dass die Erfolgsgeschichte der Einheit historisch verkürzt wird, zu Lasten der Ostdeutschen: Mittlerweile erscheine sie vielen „nur als das Werk Helmut Kohls und Michail Gorbatschows“. Dass es die Deutschen in der DDR waren, „die als erste jene Freiheit errangen, in der die Einheit überhaupt erst wieder zum Thema werden konnte, und dass sie das Thema der Einheit als erste auf die nationale und internationale Agenda setzten“, davon, meint Meyer, „spricht und schreibt im Westen so gut wie niemand“. Aus schlechtem Gewissen? „Nicht wenige bewahrt es auch vor unangenehmen Erinnerungen an die eigene Haltung“. Denn viele Westdeutsche standen der Einheit skeptisch gegenüber.

Überhaupt fühlt sich Meyer „seit meinem Eintritt in die bundesrepublikanische Gesellschaft“, wie er mit einem Anflug von Sarkasmus formuliert, immer wieder irritiert und herausgefordert. Meyer ist ein überzeugter Parteigänger der Entwicklung der Nachwendezeit, gleichwohl fällt seine Durchmusterung der westdeutschen Seite der Gegenwart ziemlich oft ziemlich ambivalent aus. Mit Vorliebe reibt er sich am „akademisch- journalistischen Komplex“ – wie er spitz die Beherrschung der Öffentlichkeit durch Medienmacht und linke Ideologie nennt, ihre Imprägnierung durch ’68 und die Folgen. Aber er führt auch einen erbitterten Kampf gegen den legeren Umgang mit der Sprache, der gerade bei den westlichen Eliten kultiviert wird. Denn ein Widerspruchsgeist ist er auch. Aber einer, den es vor allem quält, dass die Deutschen aus der Einheit nicht genug gemacht haben.

Ein aufgeklärter Reform-Katholik aus der ostdeutschen Diaspora

Natürlich erschöpft sich Meyers Lebensbericht nicht in seiner intelligenten Exegese der ostdeutschen Stimmungslagen. Diese ist vielmehr der rote Faden einer breiten Erzählung seiner „Erfahrungen im geteilten und vereinten Deutschland“ (wie das Buch im Untertitel heißt). Dazu gehört am Anfang der Versuch, als praktizierender Katholik zum DDR-Kader zu werden – das dazu aufgenommene Studium an der „Akademie für Rechts- und Staatswissenschaft“ in Babelsberg endet folgerichtig mit dem Rausschmiss, der Bewährung in der Produktion und der Aufnahme des unpolitischen Sprachstudiums. Als Mitfünfziger dann der Schritt in die Politik, für Meyer nicht nur ein glücklicher Zufall, sondern auch, wie er bekennt, die unverhoffte Erfüllung des alten Traums, politisch handeln und gestalten zu können. Schließlich die Präsidentschaft des Zentralkomitees der Katholiken von 1997 bis 2009. Auch dies eine Art Wende: Der aufgeklärte Reform-Katholik aus der ostdeutschen Diaspora an der Spitze einer in der Wolle gefärbten bundesrepublikanischen Organisation.

Hans Joachim Meyer: In keiner Schublade. Erfahrungen im geteilten und vereinten Deutschland. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2015. 775 Seiten, 36 Euro.
Hans Joachim Meyer: In keiner Schublade. Erfahrungen im geteilten und vereinten Deutschland. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2015. 775 Seiten, 36 Euro.

© Herder

Meyer vermittelt eine Ahnung von der Spur, die Katholiken, Kirche und Laienbewegung in der Wende-Ära hinterlassen haben – verblüfft stößt man dabei zum Beispiel auf eine Pastoralsynode in Dresden von 1973 bis 1975 – für Meyer eine folgenreiche Entwicklungsphase, für den altbundesrepublikanischen Leser eine Flaschenpost aus einem unbekannten Land. Er eröffnet einen Blick in das Innere der letzten DDR-Regierung – diese seltsame Halbjahres-Gratwanderung, bei der es darum ging, die DDR abzuschaffen, aber auch darum, „wie viel und wie lange es ,DDR’ in der Bundesrepublik geben würde“. Breiten Raum nehmen schließlich seine Ministerjahre ein. Sie zeigen ihn auf dem endlosen Parcours der Hochschulpolitik mit ihren Stellenplänen und Hochschulverträgen und föderalen Abstimmungsprozeduren – selbstbewusst, engagiert und eigenwillig.

Gewiss, man könnte etliches davon entbehren, und manches mag in der Tat vor allem interessant sein für die Connaisseure der Hochschulpolitik oder die Liebhaber der sächsischen Landespolitik. Aber erstens schreibt Meyer vorzüglich, mischt den oft spröden Stoff mit grundsätzlichen Erwägungen und versetzt seine Ausführungen immer wieder mit ironischen Schatten und Seitenhieben. Und, zweitens, bewirkt die Ausführlichkeit, mit der Meyer sich auf die Phasen der Veränderung in den neuen Ländern, ihre Wendungen und Windungen einlässt, dass das spezifische Gewicht des großen Vorgangs des Um- und Neubaus von Politik und Gesellschaft annähernd spürbar wird. Eine große Geschichte spiegelt sich in einer individuellen Geschichte. „Meine Geschichte ist meine Wahrheit“, schreibt Meyer. Es ist, keine Frage, ein gutes Stück Wahrheit dieser Ära.

Hans Joachim Meyer: In keiner Schublade. Erfahrungen im geteilten und vereinten Deutschland. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2015. 775 Seiten, 36 Euro.

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