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Eine Gruppe Kinder spielt in den Trümmern einer zerstörten Stadt im Deutschland der Nachkriegszeit.

© picture alliance / dpa

Nicholas Stargardts "Der deutsche Krieg 1939-1945": „Alles rächt sich“

Nicholas Stargardt beschreibt in seinem Buch, wie die Deutschen den Krieg und das Ende des „Dritten Reichs“ erlebten. Eine Rezension

Wenn es dem internationalen Finanzjudentum gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“, hatte Adolf Hitler am 30. Januar 1939, dem Jahrestag der „Machtergreifung“, im Reichstag erklärt. Was sieben Monate vor dem Überfall auf Polen noch als bloße Drohung abgetan werden konnte, war ab Ende Juni 1941 blutige Realität. Die Massenerschießungen hinter der vorrückenden Ostfront hatten eingesetzt. Joseph Goebbels setzte bei Hitler die Anordnung zum Tragen des „Judensterns“ durch, in der Erwartung, dadurch den Antisemitismus zu stärken. Ausgerechnet in der Reichshauptstadt trat das mitnichten ein, wie Goebbels bei Hitler beklagte: „Dieses Volk ist einfach noch nicht reif und steckt voller Gefühlsduseleien.“

Was haben die Deutschen gewusst?

Wie sich solche „Gefühlsduseleien“ äußerten, wie aber auch die Nazi-Propaganda wirkte, hat der in Oxford lehrende australische Historiker Nicholas Stargardt – Sohn eines 1939 noch entkommenen jüdischen Berliners – aus zahllosen Zeitzeugendokumenten herausgelesen. Der Zeitzeuge ist der Feind des Historikers, heißt es zugespitzt: Doch Stargardts Funde, wiewohl naturgemäß nicht repräsentativ im statistischen Sinne, sind derart umfassend, dass sie als Seismograf der deutschen Befindlichkeit in den Jahren 1919 bis 1945 gelten dürfen. „Der deutsche Krieg“ ist Stargardts monumentale Quellenlese betitelt, die der Autor bei einem Forschungsaufenthalt an der Freien Universität 2006 begonnen hat und nun auf über 800 Seiten ausbreitet.

Was haben die Deutschen gewusst?, ist die Frage, die die Geschichtswissenschaft in zunehmendem Maße beschäftigt hat, nachdem das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus weitgehend aufgeschlüsselt war. Autoren wie Peter Longerich – dessen Hitler-Biografie soeben erschienen ist – haben sich dieser Frage zugewandt („Davon haben wir nichts gewusst!“, 2006), während Ian Kershaw, gleichfalls Verfasser einer Maßstab setzenden Hitler-Darstellung, die Mechanismen der Herrschaftssicherung in der Endphase des Krieges untersucht hat („Das Ende: Kampf bis in den Untergang. Deutschland 1944/45“, 2011). Aus der Perspektive der vom Krieg in Deutschland selbst betroffenen Deutschen sind Bücher wie das von Jörg Friedrich („Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945“, 2002) entstanden.

Stargardt hat sich auf Tagebücher und Briefwechsel konzentriert, die über Jahre hinweg verfolgt werden konnten, auf Briefe, „die Liebespaare, enge Freunde, Eltern und Kinder sowie Eheleute einander schrieben“. Dazu hat er anderthalb Dutzend Protagonisten gewählt, deren Äußerungen sich durch das ganze Buch ziehen. Unter ihnen sind mit Victor Klemperer und Ursula von Kardorff zwei prominente Zeitzeugen, deren Aufzeichnungen seit Langem vorliegen.

Die Katastrophe von Hamburg markiert die zweite schwere Erschütterung

Dass die Deutschen mehr wussten, als sie nach 1945 jahrzehntelang zuzugeben bereit waren, ist hinlänglich bekannt. Stargardt kann diesen Befund eindrucksvoll untermauern. Dabei ergibt sich eine wichtige Querverbindung zur Hauptthese des jüngst erschienenen Buches von Timothy Snyder, „Black Death“, dass nämlich der Holocaust nicht einmal so sehr in den Lagern, sondern in den Mordaktionen in den besetzten Gebieten des Ostens vollzogen wurde. Ebendieses tagtägliche Morden spiegelt sich in den Briefen der Frontsoldaten, meist verschleiert und vor allem gerechtfertigt – doch für jeden Briefempfänger unmissverständlich. Wie verbreitet die Kenntnis von den Vorgängen im Osten war, wird anhand der Totalzerstörung Hamburgs im bis zu Dresden ’45 furchtbarsten Luftangriff des ganzen Krieges von Ende Juli 1943 deutlich. Gerüchte wollten von bis zu 350 000 Toten wissen; die tatsächlichen Zahlen veröffentlichte das Regime nicht. Bezeichnend für die Reaktion der Bevölkerung ist die Formulierung im Bericht eines Nazi-Spitzels: „Ja, das ist verdient, denn sie haben ja auch die Synagogen niedergemacht, alles rächt sich auf Erden.“ Der Verweis auf die Pogromnacht von 1938 dürfte „angesichts der Fülle von Gerüchten über die Massenmorde an Juden seltsam“ erscheinen, doch war das Novemberpogrom die letzte Aktion, „die viele in ganz Deutschland als Augenzeuge oder aktiv Beteiligte erlebt hatten, weswegen sie am stärksten in Erinnerung geblieben war“.

Stargardt schreibt, die Äußerungen nach dem Feuersturm von Hamburg „offenbarten unbeabsichtigt etwas, was bis dahin unausgesprochen geblieben war: ihr Wissen, dass die abstrakten Phrasen in der Presse und im Rundfunk von der Ausrottung der Juden eine bereits erfolgte Tatsache beschrieben“. Was die eigene Verstrickung betrifft, genügt der Hinweis, dass allein in Hamburg „zwischen 1941 und 1945 mindestens 30 000 jüdische Haushalte unter den Hammer“ kamen.

Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg 1939–1945. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 839 Seiten, 26,99 Euro.
Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg 1939–1945. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 839 Seiten, 26,99 Euro.

© S.Fischer

Die Katastrophe von Hamburg markiert die zweite schwere Erschütterung des bis dahin überwiegenden Vertrauens in das Regime und den „Führer“. Die erste war die Niederlage von Stalingrad, eingeräumt am 3. Februar 1943 und gefolgt von einem beispiellosen propagandistischen Aufwand mit dreitägiger Staatstrauer. Es nützte nichts: „Das von Goebbels und Göring sorgfältig inszenierte ,Heldenlied‘ geriet jedoch zu einem beispiellosen PR-Desaster.“ Noch überwogen Äußerungen privater Trauer um die Vermissten der 6. Armee; in die Reaktionen, schreibt Stargardt, lasse sich „schwerlich Defätismus oder politischer Widerstand hineinlesen“.

Den gab es nicht einmal in der Endphase des Krieges, als die von Stargardt zitierten Briefschreiber zumindest wollten, dass im Osten „die asiatischen Horden aus der Steppe“ aufgehalten würden. Als der Krieg zu Ende war, bestand die erste Reaktion „weniger in Rebellion als in einer Welle des Selbstmitleids, mit Äußerungen wie ,Das haben wir nicht verdient‘“. Stargardt endet sein überaus lesenswertes Buch mit einem kurzen Abriss des Umgangs mit der Vergangenheit nach 1945, die noch einmal die Perspektive aufzeigt, unter der die vorangehende Dokumentation des privaten Kriegserlebnisses zu lesen ist: „Während die nächste Generation zu fragen begann, warum Deutsche ein solches Verhängnis über die Welt gebracht hatten, waren die Älteren nach wie vor in der Katastrophe verhaftet, die sie selbst durchlebt hatten.“

Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg 1939–1945. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 839 Seiten, 26,99 Euro.

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