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Die Hauptangeklagten Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13. Februar 1946 in Nürnberg.

© picture alliance / dpa

Nürnberger Prozesse: Keineswegs unterlegen

Hubert Seliger beschreibt in seinem Buch die deutschen Verteidiger der Nürnberger Prozesse. Eine Rezension.

Ob die Nürnberger Prozesse Siegerjustiz oder eine Weiterentwicklung des Völkerrechts waren, ist trotz noch immer andauernder Debatten objektiv nicht zu entscheiden; vielleicht trifft auch beides zu. Selbst der 1933 emigrierte, in der Weimarer Republik als Anwalt tätige Staatsrechtslehrer Otto Kirchheimer räumt in seinem Standardwerk „Politische Justiz“ ein, in allen politischen Prozessen vor Gerichten eines siegreichen neuen Regimes seien „die Richter in gewissem Sinne Siegerrichter“. Dem steht gegenüber, dass als Verteidiger in den 13 Nürnberger Prozessen 264 deutsche Verteidiger (davon 77 im Hauptprozess) zugelassen waren, die zum großen Teil selbst als Anwälte, Staatsanwälte und Richter im NS-Staat tätig waren – nicht wenige sogar Parteimitglieder (61 Prozent) und Angehörige von SA und SS. Das war im alliierten Richterkollegium nicht unumstritten, wenn der sowjetische Richter Iona Nikitschenko es sehr irritierend fand, Verteidiger zuzulassen, die Mitglieder angeklagter Organisationen seien. Man einigte sich schließlich darauf, dass die Angeklagten jeden Anwalt ihrer Wahl nehmen durften, aber kein Nazianwalt als Pflichtverteidiger bestellt wurde. Die Überprüfung ihrer politischen Vergangenheit übernahm zunächst das CIC, ab Mitte 1947 das Defense Center des Tribunals, die letzte Entscheidung trafen die Richter selbst.

„Die ,Kontinuität’ einer politischen Gesinnung vom ,Dritten Reich’ bis in die Bonner Republik“

Sogar der schärfste unter den deutschen Verteidigern, der spätere bayrische Innenminister Alfred Seidl, dessen Plädoyer für Rudolf Heß vom Gericht abgebrochen wurde, weil er den Versailler Vertrag und das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt zur Sprache brachte, musste einräumen, dass kein Druck auf die Auswahl der Verteidiger ausgeübt und jeder gewünschte Anwalt zugelassen wurde. Er selbst wollte – unbewiesen – früher Mitglied der SPD gewesen sein, war aber schon 1924 Mitglied eines NS-„Jungsturms“ und als Parteimitglied seit 1937 „Blockleiter“ seiner Ortsgruppe und SA-Rottenführer. Als einer der wenigen Nürnberger Verteidiger machte er noch eine steile Anwaltskarriere als Verteidiger im bayrischen Spielbankenprozess und als Anwalt von Vera Brühne. Erst nach seinem Tod wurde bekannt, dass er auch Rechtsberater von Gerhard Frey war, dem Verleger der „National- und Soldatenzeitung“ und Gründer der rechtsradikalen DVU. „Bei Seidl“, urteilt Hubert Seliger in seiner vorliegenden Studie über Herkunft, sozialen und politischen Hintergrund und den weiteren Lebensweg der Nürnberger Verteidiger, „bestand tatsächlich die ,Kontinuität’ einer politischen Gesinnung vom ,Dritten Reich’ bis in die Bonner Republik“.

Während Seidl den Richtern als der „provokanteste“ der deutschen Anwälte erschien, der durch seine politische Argumentation den Prozess zu „sprengen“ versuchte, galten der Internationalen Presse seine Kollegen Dix und Laternser als die besten Verteidiger des Hauptverfahrens: Der parteilose „dienstälteste“ (Jahrgang 1884) Jurist Rudolf Dix, von 1932 bis 1933 Vorsitzender des Deutschen Anwaltsvereins, und das NSDAP-Mitglied (seit 1933) Hans Laternser, nach Nürnberg noch Anwalt im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963. In Nürnberg vertrat Laternser das Oberkommando der Wehrmacht, nach Seligers Urteil „ein Glücksfall für das Militär“.

Nach der Aussage von Chester Nimitz konnte Karl Dönitz nicht verurteilt werden

Als Glücksfall für die Bundesrepublik erwies sich Jahrzehnte später ein anderer „Nürnberger“, der dort als Hilfsverteidiger seines Vaters auftrat, namens Richard von Weizsäcker. Sonderrollen als Anwälte und Chronisten ihrer selbst spielten die Verteidiger Carl Haensel, im Zweitberuf Schriftsteller und Verfasser eines Nürnberger Tagebuchs, und Otto Kranzbühler als Verfasser zahlreicher Schriften zum Nürnberger Prozess und gefragter Zeitzeuge. Er machte als Verteidiger des Hitler-Nachfolgers Karl Dönitz und für Alfried Krupp von Bohlen und Halbach von sich reden. Von ihm stammt das Diktum, die Nürnberger Prozesse seien die Fortsetzung des Krieges mit juristischen Mitteln. Sein spektakulärster Erfolg im Prozess war die Aussage des US-Navy-Generals Chester Nimitz, auch die Alliierten hätten schiffbrüchige gegnerische Soldaten nicht gerettet; sein Mandant Dönitz konnte deshalb in diesem Punkt der Anklage nicht verurteilt werden.

Wie Kranzbühler im Fall Krupp lieferten vor allem die Anwälte der Großindustrie nach Seligers Eindruck den Beweis, dass die Verteidiger „keineswegs der Anklage unterlegen waren“. Die Verteidigung im I.G. Farben-Prozess sei von erfahrenen Wirtschaftsanwälten „geradezu generalstabsmäßig“ geplant worden. Kranzbühler saß nach dem Prozess im Aufsichtsrat mehrerer Großunternehmen. Als Berater der Bundesregierung soll er noch die Nichtanerkennung der alliierten Urteile im Überleitungsvertrag von 1952/54 bewirkt haben.

Nur am Rande vermerkt Seliger, dass es sich beim Kreis der Nürnberger Verteidiger um einen fast geschlossenen „Männerclub“ handelte. Dabei war die einzige Hauptverteidigerin, die parteilose Elisabeth Gombel, für ihren Mandanten Ernst Wilhelm Bohle, den Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP, mit einem „Deal“ für ihren Mandanten erfolgreich, dem sie zu einem Schuldeingeständnis für mildernde Umstände riet. Das nahmen ihr die übrigen Verteidiger übel, die zumeist eine prinzipielle „politische“ Verteidigung ihrer Mandanten betrieben. Sie waren – und damit ist Seligers Titelfrage beantwortet – politische Anwälte im Sinne Kirchheimers und des Verfasser selbst, wenn sie über das reine Mandanteninteresse an einer effektiven Strafverteidigung hinaus politisch argumentieren. Oft im Sinne der Angeklagten, aber nicht immer zu ihren Gunsten.

Hubert Seliger: Politische Anwälte? Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016. 622 Seiten, 128 Euro.

Hannes Schwenger

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