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Silvio Berlusconi im Jahr 2014 nach seinem ersten Sozialdienst.

© AFP/Giuseppe Cacace

Perry Anderson über Italien: Das Konzentrat Europas

Voller Wut seziert Perry Andersons in seinem Essay den italienischen Teil dieser EU-Krankengeschichte. Eine Rezension

Ein Essay von Andrea Dernbach

Die Wirtschaft im freien Fall, Mafia, Korruption, Parteienzank, die Sex-Orgien eines früheren Ministerpräsidenten: Über „das italienische Desaster“ ist wohlig gruseln, zumal alle Welt – und gerade die Deutschen – es liebt, das Land für das schlichte Gegenteil der eigenen Tüchtigkeit zu halten. Italien als Anomalie in Europa: Für Perry Anderson ist das eine „geheiligte“, aber falsche Phrase. Italien sei „viel eher ein Konzentrat der europäischen Situation“.

Auf seiner Liste ist auch Helmut Kohl verzeichnet

Krank sei ganz Europa, schreibt der britische Historiker und langjährige Herausgeber der „New Left Review“, es leide weit über die Halbinsel hinaus unter dem Niedergang der Demokratie, korrupten Eliten und dem kulturellen wie sozioökonomischen „Fallout des Neoliberalismus“. Die EU-Institutionen schafften die Volkssouveränität ab und hätten bereits das Haushaltsrecht der Parlamente kassiert, die Volksvertreter bereicherten sich derweil straflos selbst. Auf Andersons Mitgliederliste der europäischen Eliten-Malavita ist Helmut Kohl mit seinen schwarzen Kassen ebenso verzeichnet wie die Geschäfte von Gerhard Schröder und Tony Blair, Jacques Chiracs Verurteilung wegen Unterschlagung und Recep Tayyip Erdogan, der in der Türkei eine Sultansfamilie versorgt. Der Schmiergeldskandal um Spaniens Ministerpräsidenten Mariano Rajoy, schreibt Anderson, sei dem Zentralorgan freier Marktwirtschaft, dem „Economist“, anders als Silvio Berlusconi keine Titelgeschichte wert gewesen. Den Mann in Rom hätten denn auch nicht sein Lebenswandel und seine Gesetze ad personam zugrunde gerichtet, sondern dass Europas Eliten für die Politik der „schmerzhaften Reformen“ nicht auf ihn zählen konnten.

Perry Anderson: Das italienische Desaster. Edition Suhrkamp Digital, Berlin 2016. 80 Seiten, 7,99 Euro.
Perry Anderson: Das italienische Desaster. Edition Suhrkamp Digital, Berlin 2016. 80 Seiten, 7,99 Euro.

© ESD

Geradezu wütend seziert Andersons Essay, der bereits 2014 erschien und deutsch mit einem aktuellen „Postskriptum“ herauskommt, den spezifisch italienischen Teil dieser EU-Krankengeschichte. Dabei bricht er fast überall mit der herrschenden Lesart: Von Staatspräsident Giorgio Napolitano hält er nicht nur persönlich nichts („ein klassischer Opportunist“). Er wirft dem vom Ausland wie Italiens Mainstream-Presse einst als Stabilitätsanker Verehrten, der drei Regierungen über Wahlergebnisse hinweg einsetzte und Neuwahlen mal verhinderte, mal forcierte, einen prominenten Anteil am Demokratieabbau vor. Der ebenfalls von Napolitano berufene aktuelle Premier Matteo Renzi sei nicht das Ende des Berlusconismus, sondern dessen Vollendung. Im Komiker Grillo sieht Anderson dagegen uritalienischen Widerstandsgeist am Werk, der anderswo erloschen sei. Hier ist die Zeit über den Text hinweggegangen; seither gab es Wahlsiege linker Fundamentalopposition in mehreren EU- Ländern, zugleich wuchs der Anti-System-Protest von rechts. Anregende Lektüre bleibt Andersons Essay dennoch, für die Toskanafraktion wie für alle, die Fragen zum Zustand der Demokratie in Europa haben.

Perry Anderson: Das italienische Desaster. Edition Suhrkamp Digital, Berlin 2016. 80 Seiten, 7,99 Euro.

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