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UN-Beobachtung. Ratko Mladic (links) stößt mit dem Niederländer Thomas Karremans (zweiter von rechts) am 12. Juli 1995 an.

© picture alliance / AP Photo

Politische Literatur: „Leute, das ist Völkermord“

Ethnische Säuberung mitten in Europa: Matthias Fink schreibt die Chronik von Srebrenica.

Während des Völkermords von Srebrenica starben 8372 Menschen. An deren Schicksal erinnert das fast 1000 Seiten starke Buch von Matthias Fink. Erschienen ist Finks Chronologie des Schreckens in der Hamburger Edition von Jan Philipp Reemtsma, die sich der Dokumentation von Menschheitsverbrechen jeder ideologischen Couleur verschrieben hat – ob in den Konzentrationslagern Hitlers oder dem Gulag Stalins, mit denen es im 20. Jahrhundert leider nicht sein Bewenden hatte.

Im Vergleich mit ihnen mögen die über 8000 Toten von Srebrenica kaum ins Gewicht fallen, und doch waren sie für das Europa nach dem Ende der heißen und kalten Kriege ein schockierender Rückfall in eine überwunden geglaubte Vergangenheit. Und auch sie sind, trotz der Anklagen und Prozesse in Den Haag, bis heute Teil einer unbewältigten Vergangenheit. Noch immer fragen die „Mütter von Srebrenica“ nach verschollenen Angehörigen, und noch immer ist die junge Staatlichkeit Bosnien-Herzegowinas instabil, zumal ihre serbisch-bosnische Teilrepublik in Obstruktion verharrt.

Matthias Fink benutzt einen Kunstgriff, um das Mordgeschehen von Srebrenica nicht in der abstrakten Zahl seiner 8000 Opfer aufgehen zu lassen, sondern einen Namen für alle sprechen zu lassen. „Was geschah mit Mirnes Osmanovic?“, fragt er im Prolog des Buches.

„Endlich ist der Augenblick gekommen, an den Türken Rache zu nehmen“

Es geht um das Schicksal des 1995 vierzehnjährigen Jungen, der mit seinen Eltern und Geschwistern bei der Einnahme Srebrenicas durch die bosnisch-serbische Armee vergebens Zuflucht bei der niederländischen Schutztruppe Unprofor vor den einrückenden „Tschetniks“ suchte und von diesen deportiert wurde. Seine Mutter Zuhra versuchte ihn noch zurückzuholen, als sie beobachtete, dass die Männer beim Abtransport von ihren Familien getrennt wurden, angeblich um sie als Gefangene auszutauschen.

Doch vor dem Haus, in das Mirnes mit den anderen Männern geführt wurde, „türmte sich ein riesiger Haufen mit Rucksäcken und Taschen auf. Mirnes musste seine Tasche dort abstellen. Dann wurde er in das weiße Haus geführt. Es war das letzte Mal, dass Zuhra Osmanovic ihren Sohn Mirnes gesehen hat“.

Zwei Tage zuvor hatte General Ratko Mladic vor laufenden Fernsehkameras ein „serbisches Srebrenica“ proklamiert und hinzugefügt: „Und endlich ist der Augenblick gekommen, nach dem Aufstand gegen die Dahijas an den Türken in dieser Region Rache zu nehmen.“ Da lag der serbische Aufstand von 1804 gegen osmanische Besatzer fast zwei Jahrhunderte zurück.

Nach dem Ende des Osmanischen Reichs und noch in Titos Jugoslawien hatte man wieder friedlich zusammengelebt. Damit sollte es ein Ende haben, seit Mladic die muslimischen Bosniaken wieder als „Türken“ bezeichnete. In Srebrenica hatten sie bis dahin die Mehrheit der Einwohner gestellt, die bosnischen Serben ein Drittel. Damit war die Stadt eine mehrheitlich muslimische Enklave im bosnisch-serbisch dominierten Ostteil Bosnien-Herzegowinas und ein Hindernis für die separatistische „Republika Srpska“, die Radovan Karadzic und sein militärischer Oberbefehlshaber Mladic mit allen Mitteln bis zur vollständigen „ethnischen Säuberung“ installierten.

Übergriffe, Attentate und Guerilla-Aktionen

Dabei hatte auf dem Gebiet dieser „Serbischen Republik“ nie zuvor ein serbischer Staat existiert. Selbst Mladic war sich über die Konsequenzen einer „ethnischen Säuberung“ im Klaren, als er im Parlament der Republika Srpska 1992 Zweifel anmeldete, „wie Herr Krajisnik und Herr Karadzic das der Welt erklären werden. Leute, das ist Völkermord“. Trotzdem wurde er zu dessen Vollstrecker.

Wegen seiner persönlichen Verantwortung verurteilte das UN-Tribunal in Den Haag im März Karadzic zu 40 Jahren Gefängnis. Der Prozess gegen Mladic läuft noch. Beide leugnen die in der bosnisch-kroatischen Föderation inzwischen amtlichen Opferzahlen von Srebrenica. Karadzic will nur von „höchstens 4000 Vermissten“ wissen, gab aber auch eine „Vermischung von im Kampf Gefallenen und Exekutierten“, also auch Exekutionen zu.

Seine Nachfolgerin Biljana Plavsic hat in ihrem Haager Prozess sogar „viele tausende Opfer“ eingestanden, für die „Erklärungen mit Selbstverteidigung und Überleben keine Rechtfertigung“ böten. Das Gericht honorierte das Eingeständnis mit einer „milden“ Haftstrafe von elf Jahren statt lebenslänglich. Vorzeitig freigelassen, widerrief sie das Bekenntnis, sie habe „nichts Falsches getan“ und sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur schuldig bekannt, „um über die anderen Beschuldigungen verhandeln zu können“.

Dass auch die bosnisch-serbische Minderheit von Srebrenica und Umgebung Anlass zum Kampf um ihr Überleben sah, bestreitet Matthias Fink nicht. Schon im Herbst 1989 kursierten Dokumente der serbischen Staatssicherheit, die von einer Abwanderung bosnischer Serben aus Srebrenica und Umgebung unter dem Druck muslimischer Fundamentalisten wissen wollten.

Umgekehrt empörten sich Bosniaken, dass der serbische Geheimdienst bei ihnen spionierte. Beim Zerfall des kommunistischen Systems formierten sich in Bosnien-Herzegowina unterschiedliche „nationale“ Parteien – eine serbische, kroatische und die Partei der muslimischen Bosniaken. Es kam zu Übergriffen von beiden Seiten, Bildung von Milizen, Attentaten und Guerilla-Aktionen.

Unter den Augen hilfloser UN-Soldaten

Während der folgenden Abschnürung Srebrenicas durch die umgebende Republika Srpska plünderten und brandschatzten ausgehungerte Bosniaken serbische Dörfer im Umland, bis die aus Belgrad besoldeten und ausgerüsteten bosnischen Serben den Ring um Srebrenica schlossen und nur noch auf eine Gelegenheit zur Eroberung der Stadt warteten. Und auf ihre Rache.

Matthias Fink verzeichnet in chronologischer Folge die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt um Srebrenica, die auch durch Stationierung von UN-Blauhelmen, Drohung mit Nato-Luftangriffen und Verkündung von Schutz- und Sicherheitszonen nicht mehr zu stoppen war.

Das grausame Finale erfolgte unter den Augen hilfloser niederländischer UN-Soldaten, deren Kommandeur von Mladic gedemütigt und regelrecht vorgeführt wurde. „Ein Dreck bist Du. Ich bin hier der Gott!“, verbat er sich bei ihm jegliche Intervention und nötigte die UN-Soldaten sogar zu Hilfsdiensten bei den vermeintlichen „Evakuierungen“ – um anschließend ihrem Kommandanten Thomas Karremans zuzuprosten (links). Das Foto ging als Dokument der Schande um die Welt.

Der hilf- und tatenlose Kommandant wurde bei seiner Heimkehr dennoch zum Obersten befördert. Nur weil ein Bataillonskommandant drei hilfesuchende Bosniaken aus dem geschützten Bereich seines Stützpunkts verwiesen und ihren Mördern ausgeliefert hatte, wurden die Niederlande auf die Klage der Angehörigen hin wegen unterlassener Hilfeleistung überhaupt verurteilt.

Nicht nur die Toten sind zurückgekehrt

Der niederländische Verteidigungsminister hatte ausdrücklich untersagt, beim gesonderten Abtransport der Männer zu kooperieren und angewiesen, „so viele wie möglich zu retten“. Das holländische Bataillon, kommentiert Fink lakonisch, „hat sich nicht an die Anweisung des Ministers gehalten“.

Ob die Regierung von Bosnien-Herzegowina in der ebenfalls umkämpften Landeshauptstadt Sarajevo die Opfer von Srebrenica hätte retten könnten, ist umstritten. Bis heute kursieren Gerüchte über ihre bewusste oder heimliche Zurückhaltung, um der durch bosnisch-serbische Exklaven bedrohten Hauptstadt freien Rücken zu verschaffen und dafür die bosniakische Exklave Srebrenica der Republika Srpska preiszugeben.

Dass es im späteren, durch Bill Clinton veranlassten Dayton-Abkommen genau so kam, lässt sich sowohl mit den stets dementierten Gerüchten wie durch die normative Kraft des Faktischen erklären. Mehr weiß auch Fink nicht. Er schließt seine Chronologie mit der Antwort auf die Frage nach Mirnes Osmanovic: Die sterblichen Überreste des Jungen wurden 2011 in einem „Sekundärgrab“ (einem zur Tarnung der Massenmorde vom ursprünglichen Tatort entfernten Massengrab) gefunden und im Juli auf dem Friedhof von Potocari neben seinem gleichfalls ermordeten Vater beigesetzt.

Aber nicht nur die Toten sind zurückgekehrt, auch ein kleiner Teil der Vertriebenen ist mit humanitärer Hilfe mittlerweile wieder heimgekehrt, obwohl es in Srebrenica für sie keine Arbeit gibt. Mit einer Ausnahme, wie Fink am Beispiel eines von ihnen ergänzt: „Wenn unten im Tal wieder ein Massenbegräbnis der Toten von Srebrenica stattfindet, dann kann er, der selbst einer Exekution nur knapp entkommen ist, ein bisschen was verdienen.“ Hier gebe es „keine Sieger. Nur Verlierer. Und 8372 Tote“.

– Matthias Fink:
Srebrenica. Chronologie eines Völkermords oder Was geschah mit Mirnes Osmanovic. Hamburger Edition, Hamburg 2015.

977 Seiten und zwölf Karten, 45 Euro.

Hannes Schwenger

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