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Angela Merkel und ein Flüchtling beim „größten Sozialexperiment Europas seit der Russischen Revolution“ (Sarrazin).

© dpa

Thilo Sarrazins neues Buch: Obsessionen zwischen Angela und Afrika

Thilo Sarrazin will die Frage beantworten, warum Politik so häufig scheitert - und liefert einen unsortierten Gemischtwarenladen. Eine Rezension.

Nun also Wunschdenken: Thilo Sarrazin ist kein Freund der schrillen Töne mehr. „Deutschland schafft sich ab“, das war vor sechs Jahren. Jetzt hat er sich Zeit genommen, Weltgeschichte und Weltökonomie seit den frühen Hochkulturen studiert und ist abgeklärter, realistischer, pragmatischer aus seinem Arbeitszimmer herausgekommen. Das Leitmotiv des neuen Buches ist der Widerstand gegen die alten und die neuen Utopien, und als geistiger Kronzeuge des streitbaren Politikers begegnet immer wieder der britische Philosoph Karl Popper, der auch für einen der größten Pragmatiker der deutschen Politik lebenslanges Leitbild war, für Helmut Schmidt. Schon mit Platon im antiken Griechenland begannen die moralischen Utopien einer perfekten Gesellschaft ihre Verlockung auszustrahlen – und zugleich einer freien Gesellschaft Fesseln anzulegen. Mit Karl Marx und in den totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts setzte sich das fort. Die „offene Gesellschaft“ dagegen, für die Popper vehement eintrat und deren Flagge auch Sarrazin selbstbewusst hisst, begnügt sich mit „piecemeal engineering“, mit einer Sozialtechnik und Politik des Stückwerks statt des erdrückenden Gesamtentwurfs. Sie setzt auf realistische Verantwortungsethik und erkennt an, dass es einfache und eindeutige Lösungen in der Politik nicht geben kann.

„Fünf Erbsünden der Politik“

Leider nur Wunschdenken. Denn was Sarrazin seiner Weltsicht zugrunde legen will, löst er auf fünfhundert Textseiten nur ganz gelegentlich ein. Die Bildungspolitik bildet darin erneut einen Schwerpunkt, und nüchtern konstatiert er den Tod des klassischen deutschen Gymnasiums: „Das Abitur ist auf dem Weg zum überwiegenden Schulabschluss, ähnlich dem französischen Baccalaureat oder dem amerikanischen High School Diploma.“ Das ist unvermeidlich, und statt Nachhutgefechte zu führen, sollte man dem Trend eine konstruktive, eine „positive, leistungsorientierte Wendung geben“ – mit einer Art polytechnischem Unterricht für alle und differenzierten Leistungsgruppen. Darüber lohnt sich zu streiten, denn die Dinge sind nun mal nicht so einfach, und die allermeisten Politiker entsprechen dem von Sarrazin in zehn Punkten gefassten Tugendkatalog des guten Regenten „leider nicht einmal annähernd“. Aber wer wären wir, dass wir uns für besser hielten als die Politiker, unsere Ideen für richtiger?

Moment – mit dieser Frage haben wir schon zu viel in den neuen Skeptiker Sarrazin hineingelesen. Karl Popper ist eine Hülle, in der ein selbstbewusster Mann wie der ehemalige Berliner Finanzsenator es nicht lange aushält. Natürlich sind die Politiker dumm, machen Fehler am laufenden Band, betrügen uns und sich selber. Das ist, findet man sehr schnell heraus, die eigentliche, ziemlich vertraut klingende, unverhüllt populistische Botschaft dieses neuen Buches. „Fünf Erbsünden der Politik“ entdeckt es in ganz verschiedenen Themenfeldern, vom Klima zur Währung, von der Bildung zur Einwanderung. Natürlich, der Stammtisch hat es ja schon immer gewusst, und jetzt kann er sich erneut auf Thilo Sarrazin berufen: „Die Politik“ – ja, so heißt es tatsächlich erschreckend oft und erschreckend vereinfachend – ist gewissenlos, anmaßend, bedenkenlos, opportunistisch und betrügerisch, und betrügt sich damit am Ende auch selber.

Wer Süffiges erwartet hat, wird nicht enttäuscht

Das Plädoyer für eine offene Gesellschaft schlägt so ganz schnell in sein Gegenteil um. Sarrazin wünscht sich eine geschlossene deutsche Gesellschaft, und zwar nicht erst seit dem Sommer 2015. Er entwickelt eine alternative Geschichte der Bundesrepublik seit den 50er Jahren, die den „großen Fehler“ des Zuzugs von Gastarbeitern im großen Stil vermieden hätte, natürlich auch die „Gewährung von Daueraufenthaltsrechten und Familiennachzug“, besonders für Einwanderer „aus dem islamischen Kulturkreis“. Man muss harte Probleme von Integration und Kulturkonflikt überhaupt nicht leugnen, um eine solche Utopie des rein bleibenden Deutschland wenig attraktiv zu finden. Realistisch ist sie schon gar nicht, denn seltsamerweise überschätzt Sarrazin, der beredte Kritiker „der Politik“ und selbst ernannte Schüler Poppers, die Gestaltungsmöglichkeiten von Politik in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamiken notorisch.

Aber wer Süffiges erwartet hat, wird nicht enttäuscht: Die liberale Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und zumal der Kanzlerin seit September vergangenen Jahres ist für Sarrazin doch tatsächlich „das größte Sozialexperiment Europas seit der Russischen Revolution“. Wow. Als Nächstes verpuppt sich Angela Merkel wahrscheinlich zu einem neuen Stalin. Etwas Ähnliches muss der arme Autor tatsächlich befürchten, denn die Verzweiflung, mit der er sich an seinem Feindbild Merkel abarbeitet, ist bloß noch obsessiv zu nennen: Merkel, die gnadenlose Utopistin, die Deutschland mit ihrem moralischen Rigorismus ins Elend stürzt. Das von ihr angestoßene „utopische Experiment“, so raunt es, „kann Deutschland bis zur Unkenntlichkeit verändern“. Also doch: Deutschland schafft sich ab. Zwei große Obsessionen durchziehen diesen Großtraktat: Angela und Afrika; bei beidem schaudert es Sarrazin. Gewiss, die Bevölkerungsexplosion Afrikas wird uns noch gehörig zu schaffen machen. Aber von Rationalität ist hier keine Spur mehr – stattdessen die spürbare Angst: Und wenn die nun alle zu uns kommen?

Zum Glück gibt es Thilo Sarrazin, der den Skeptizismus Poppers schnell wieder über Bord geworfen hat und alles ganz genau weiß, zumal es eigentlich sehr einfach ist, wenn man sich nur mal von den „Lebenslügen“ der Politik verabschieden würde. Was sind denn diese Lebenslügen? Da landet der Tiger als Bettvorleger. „Wir brauchen eine höhere Erwerbsbeteiligung der Frauen, um unseren Wohlstand zu sichern.“ Lebenslüge? Weithin unumstritten; gerne darf man anderer Meinung sein; und im Übrigen: Das ökonomische Argument ist nie das wichtigste dafür gewesen, die Frauen aus der Küche zu befreien. Weiter: „Bildung sorgt für Gleichheit.“ Wieder dasselbe Muster, wieder die populistische Insinuation, die Sarrazins Buch über weite Strecken durchzieht, als ob es einen falschen Zwangskonsens gäbe, der endlich einmal durchbrochen werden müsse. Ob Bildung für Gleichheit sorgt, darüber wird sehr kontrovers diskutiert, in der Wissenschaft ebenso wie in der Politik. „Konservative“ bestreiten das ebenso wie „Linke“, die darauf verweisen, dass die Gebildeten und ihre Kinder bisher noch aus fast allen Bildungsreformen nicht den schlechtesten Nutzen gezogen haben. Aber halt, wie konnten wir nur vergessen: „Die Antwort ist bestürzend einfach“ – jedenfalls in der Welt von Thilo Sarrazin. Beispiel Klimawandel: Was soll der Hokuspokus von Atomausstieg und erneuerbaren Energien. Man müsste „zunächst den weiteren Bevölkerungsanstieg stoppen“ – ganz besonders, dreimal darf man raten, in Afrika.

Ein guter Lektor hätte aus 403 Seiten 250 gemacht

Sarrazin gibt sich in seinem neuen Buch als Weltphilosoph. Er hat vieles gelesen und beruft sich auf wissenschaftliche Autoritäten. Aber daraus werden gefällige und nicht selten zugleich erratische Konsequenzen gezogen. Aus der Tiefe des philosophischen Raumes, wahlweise auch der vermeintlich unumstößlichen Wahrheiten der Erbbiologie oder der Hirnforschung, kommt Thilo Sarrazin und findet seine Feindbilder. So etwas nennt man Halbbildung. Die Entwicklung von Argumenten spart der Autor sich öfters auch in der sprachlichen Form seiner Darstellung. Dann benennt er in unzähligen Spiegelstrich-Listen, was ihm gegen den Strich geht. Im harmloseren Fall ergibt das erbauliche Kataloge von Ratschlägen nach Art eines Bauernkalenders: „Schau, wenn du ins Land lässt.“ (Vor allem keine Muslime und Afrikaner!) „Belohne Fleiß, bestrafe Faulheit.“ „Sorge für gute Beamte.“

Na also, dann ist die Rettung unseres Gemeinwesens ja in einfache und leicht umsetzbare Vorschläge gefasst. Da ist für jeden etwas dabei, denn das Buch ist ein großer, aber schlecht sortierter Gemischtwarenladen. Auf Seite 406 ist es eigentlich zu Ende, und schon daraus hätte ein guter Lektor in wenigen Tagen 250 Seiten gemacht. Vollends absurd aber ist ein fast hundertseitiger „Anhang“ mit „Erläuterungen zur Politik“, der offensichtlich nichts anderes ist als eine Ablage für zwischenzeitlich ausgesonderte Passagen des Manuskripts. Außer tiefschürfenden Überlegungen zu Themen wie „Politik und Erotik“ findet sich hier manches Sarrazin-Schmankerl wie der Satz: „Ideen hatte ich viele.“

Apropos „ich“: Der als Weltphilosoph angefangen hat, entpuppt sich bald als Egomane. Entweder man schreibt eine tiefschürfende Problemanalyse oder politische Memoiren. Sarrazin konnte sich nicht entscheiden. Nach 120 Seiten bricht das Ego aus ihm hervor: Dann tat ich dieses, dann tat ich jenes, und immer sind die anderen die Dummen, und ich selber bin der siegreiche Held, wo auch immer der Feuerwehrmann zu einem brennenden Haus gerufen wurde. Karl Popper würde sich im Grabe umdrehen. Der Stammtisch guckt wahrscheinlich nur irritiert. Alle anderen sind enttäuscht: Dieses Buch lohnt nicht einmal große Aufregung oder entschiedenen Widerspruch.

Thilo Sarrazin: Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016. 571 Seiten, 24,99 Euro.

Paul Nolte

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