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A1946 hielt Winston Churchill in Fulton seine "Eiserner-Vorhang-Rede". Es war der des Kalten Krieges.

© picture alliance / dpa

Victor Sebestyens Buch über 1946: Wandel, nicht Revolution

Für Victor Sebestyen werden 1946 die Grundlagen der modernen Welt geschaffen. Das überspitzt die historische Bedeutung des Jahres. Eine Rezension.

Bücher über das angeblich eine entscheidende Jahr sind derzeit in Mode: Simon Hall, Senior Lecturer in American History an der University of Leeds, hat gerade sein globales Panorama des Jahres 1956 veröffentlicht („1956. Welt im Aufstand“, Klett-Cotta). Im kollektiven Gedächtnis Europas ist dieses Jahr am ehesten gespeichert unter „Aufstand in Ungarn“. Doch es war weit mehr. Hall ruft in Erinnerung, wie sich die Welt in der Mitte des 20. Jahrhunderts in und um Europa herum veränderte. Sein 1956 in Budapest geborener und heute in London lebender und für „Newsweek“ arbeitender Historikerkollege Victor Sebestyen setzt zehn Jahre früher an. Wie Hall begibt auch er sich auf eine historische Reise rund um den Globus, um das in Europa immer noch eurozentrisch geprägte Bild von der Welt wenigstens ergänzen zu können mit Eindrücken von Geschehnissen und Ereignissen auf anderen Kontinenten.

Der Globus teilte sich entlang der ideologischen Bruchlinien

Als Journalist und Auslandskorrespondent unter anderem für den „London Evening Standard“ und die „New York Times“ ist Sebestyen Zeuge einer Vielzahl historischer Ereignisse geworden – vom Fall der Berliner Mauer über den Zusammenbruch der Sowjetunion bis hin zum Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt in Israel und Palästina. Im Verlauf zahlreicher Besuche in Indien hat er miterlebt, wie sich ein rückwärtsgewandtes, bitterarmes Land zu einer pulsierenden Gesellschaft wandelte, die sich der Zukunft öffnete. China schließlich tauschte die permanente Revolution gegen eine Form des Turbokapitalismus ein, die von Menschen vorangetrieben wird, die sich selbst immer noch als Kommunisten bezeichnen. Und während dieses gesamten Zeitraums wurde die Welt von der amerikanischen Supermacht dominiert. Bei dem Versuch, als Historiker all jene Ereignisse zu ihren Wurzeln zurückzuverfolgen, landete Sebestyen nach eigener Aussage immer wieder bei demselben Bezugspunkt: 1946.

Dieses erste Nachkriegsjahr hat für Sebestyen eine zentrale Bedeutung, da es in seinen Augen die Grundlagen der modernen Welt geschaffen hat: Der Kalte Krieg begann. Der Globus teilte sich entlang der ideologischen Bruchlinien. Europa zerfiel entsprechend in zwei Hälften zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Der Staat Israel sollte zwar erst zwei Jahre später gegründet werden. Aber 1946 fielen die Entscheidungen, welche die Bildung der jüdischen Heimstatt ermöglichten – „mit all den Konsequenzen, die sich inzwischen als so verhängnisvoll erwiesen haben“. Im selben Jahr kämpfte Indien um seine Unabhängigkeit, heute die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Auch hier begann die imperiale Macht des alten Britanniens zu bröckeln. Sämtliche Kolonialreiche Europas befanden sich damals im Zerfall, auch wenn der Imperialismus nach Sebestyens Wahrnehmung in verschiedenen Formen weiterlebte. 1946 war zugleich das Jahr, in dem die chinesischen Kommunisten endgültig ihren Sieg in einem Bürgerkrieg besiegelten, der den erneuten Aufstieg Chinas zur Großmacht einleitete.

Er arbeitet die Unterschiede zwischen der Nachkriegszeit ab 1945 und der ab 1918 klar heraus

Sind Sebestyens Schilderungen globalen Wandels, in bester Tradition angelsächsischer Erzählkunst verfasst, an sich von Wert, so liegt der Reiz der Lektüre seines Werkes insbesondere in dem erzählerischen Bogen, den er zwischen Schauplätzen schlägt, die kaum im kollektiven Gedächtnis Europas verankert sind: Der Zweite Weltkrieg war zwar zu Ende – das Sterben aber nicht. 1945 waren die Augenblicke der Befreiung in der Regel von Freude und Erleichterung begleitet gewesen. Doch schon bald wurden die Menschen von einer neuen blutigen Realität eingeholt: Während der nächsten vier Jahre nahmen die Bürgerkriege in China und Griechenland ihren Lauf. In der Ukraine kam es zu Aufständen gegen die Sowjets. Hier führten Nationalisten gleichzeitig einen brutalen Kampf gegen Polen – mehr als 50 000 Menschen starben. Und auch nach dem Holocaust kam es in Osteuropa zu antisemitischen Ausschreitungen – 1500 Juden, denen es gelungen war, den Nationalsozialisten zu entkommen, verloren ihr Leben.

Parallel flammten in Asien Unabhängigkeitskriege auf. In China waren im Kampf gegen die japanischen Invasoren die Deiche am Gelben Fluss gesprengt worden: 12 000 Quadratkilometer fruchtbares Ackerland waren überflutet – die Beseitigung dieses Schadens sollte nicht nur dreißig Jahre dauern, sondern auch Millionen Chinesen zu bitterem Hunger verurteilen. In Osteuropa verhungerten in den ersten 18 Monaten nach dem Krieg rund drei Millionen Menschen.

Sebestyen arbeitet die Unterschiede zwischen der Nachkriegszeit ab 1945 und der ab 1918 klar heraus. Zu Recht sieht er die ganze Welt nach dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifender umgestaltet als nach dem Ersten, der zwar Reiche zerstörte, die es seit Jahrhunderten gab – das der Osmanen, der Romanows und der Habsburger. Aber nach 1945 waren sogar Weltreiche wie das britische nicht mehr zu halten. Die Vereinigten Staaten hingegen waren der einzige Hauptakteur des Konflikts, dessen Territorium praktisch unberührt geblieben war.

Zweifellos waren all dies historische Ereignisse von großer Tragweite. Doch wie Hall erscheint auch Sebestyen überpointiert in der historischen Einordnung. Ob 1956 und 1946 in den Rang von revolutionären Umbrüchen in der Dimension der Jahre 1789 und 1848 zu heben sind, wie es hier versucht wird, dürfte dann doch zu bezweifeln sein – zu sehr entfalteten 1956 wie 1946 ihre jeweilige Wirkung auf den jeweiligen Schauplätzen erst im Zusammenspiel mit Entwicklungen noch kommender Jahre. Ihre Geschichte ist zwar nicht ohne das von Hall herausgegriffene 1956 und von Sebestyen ausgewählte 1946 zu erzählen – aber dies dürfte auch umgekehrt gelten.

– Victor Sebestyen: 1946. Das Jahr, in dem die Welt neu entstand. Rowohlt Berlin, Berlin 2015. 544 Seiten, 26,95 Euro.

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