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Putin-Büste.

© dpa

Walter Laqueur über Putin: Putinismus gibt es nicht

Der Politologe Walter Laqueur beschreibt den Führer Russlands in seinem neuen Buch als Ideologen. Doch der ist ein Pragmatiker. Eine Rezension

Wohin treibt Russland? Diese Frage ist so alt wie Russland selbst. Denn stets gab das Riesenreich den Regierungen Europas Rätsel auf. Warum konnten sich Polen und die baltischen Republiken in Demokratien verwandeln, Russland und alle anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion aber nicht? Warum wird die liberale Ordnung in Russland verachtet und der autoritäre Machtstaat besungen? Wie lässt sich der Erfolg Wladimir Putins erklären, der als unbekannter Funktionär ins Präsidentenamt gekommen war und nunmehr fast 15 Jahre lang die Geschicke des Vielvölkerstaates lenkt? Wer verstehen will, warum Russland anders ist als Deutschland, und warum die Krise um die Ukraine ohne Russland nicht überwunden werden kann, sollte auf diese Fragen eine Antwort geben können.

Farbloser Apparatschik aus dem KGB

Walter Laqueur, der von 1964 bis 1991 Direktor des Londoner Instituts für Zeitgeschichte war, hat sich an dieser Frage versucht. Was ist dabei herausgekommen? Leider nicht mehr als eine oberflächliche Beschreibung des Bekannten. Laqueur erzählt von der ökonomischen Krise, die dem Ende der Sowjetunion folgte, von den Bandenkriegen und dem Zerfall der politischen Ordnung und dem kometenhaften Aufstieg Putins. Als Boris Jelzin 1999 nach einem Nachfolger gesucht habe, habe er sich für Putin, den farblosen Apparatschik aus dem KGB, entschieden. Aber der Nachfolger musste ins Amt gedrängt werden, weil er sich nicht zutraute, die ökonomischen Krisen zu bewältigen, die ihm der Vorgänger hinterlassen hatte. Aber schon nach wenigen Monaten hatte sich der unscheinbare Funktionär in einen Machtpolitiker verwandelt, der mit den Oligarchen und Gefolgsleuten Jelzins kurzen Prozess machte. Wer sich ihm nicht unterwarf, musste damit rechnen, verhaftet und um sein Vermögen gebracht zu werden. Diese Erfahrung machten alle Oligarchen, die sich in den 1990er Jahren schamlos am Staatsvermögen bereichert hatten. Boris Beresowski wurde ins Exil getrieben und beging Selbstmord, Michail Chodorkowski kam ins Arbeitslager. In Russland konnte Putin mit solcher Konsequenz nur Freunde gewinnen.

Aber die Stabilität, die Putin dem Land zurückgab, war nur möglich, weil in seiner Amtszeit die Preise für Öl und Erdgas stiegen und der Wohlstand wuchs. Für diese Stabilität bezahlten die Bürger mit dem Verlust ihrer Freiheit. Die meisten waren bereit, diesen Preis zu entrichten. Laqueur aber malt die Wirklichkeit in dunklen Farben. Er beschreibt die absurden Verschwörungstheorien und esoterischen Fantasien der neuen Rechten, die zu Stichwortgebern des Präsidenten geworden sind, die Wiederbelebung der orthodoxen Kirche als Legitimationsinstanz der Macht und die Renaissance des Diktators Stalin. Inzwischen sei auch die Slawophilie in ihrer fremdenfeindlichen Variante in das russische Leben zurückgekehrt, schreibt Laqueur. Jede Verschwörungstheorie und jede Fabel, die faschistische Ideologen über das Verhältnis Europas zu Russland verbreiteten, würde inzwischen für glaubhaft gehalten. Stalin werde von den meisten Russen als großer Staatsmann geschätzt, die Diktatur der Demokratie vorgezogen. So wie in Europa wolle niemand leben. Deshalb habe die Opposition keine Chance, an die Macht zu gelangen, nicht einmal dann, wenn die Wahlen halbwegs frei wären.

Ideologen, die vom "Dritten Rom" faseln

Auch das Verhältnis zwischen den ethnischen Gruppen, zwischen Russen und Muslimen, betrachtet Laqueur durch die Brille des Pessimisten. Schon immer seien Fremde in Russland schlecht behandelt worden, damals wie heute, und deshalb sei von den Integrationsleistungen des Staates nicht viel zu erwarten. Seit Putin und die Ideologen des Machtstaates die glorreiche Vergangenheit des Imperiums besängen, seien Krieg und Gewalt als Möglichkeit der Politik in die europäische Wirklichkeit zurückgekehrt. Auch die Zukunft malt Laqueur in dunklen Farben: Die Entwicklung einer demokratischen Ordnung sei nicht in Sicht, die Lebenserwartung der meisten Russen sei gering, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nehme ab. Auch in Zukunft werde die Glorifizierung des sowjetischen Imperiums für die Eliten Richtschnur des Handelns sein. Deshalb werde sich die Konfrontation mit den Ländern des Westens verschärfen. Es steht also schlecht um Russland, wenn eintreffen sollte, was Laqueur voraussagt. Aber stimmt das eigentlich? Es ist zweifellos richtig, dass Putin sich mit Ideologen umgibt, die vom „Dritten Rom“ oder von der „slawischen Mission“ faseln, mit Geistlichen, die Russland als einen Ort moralischer Überlegenheit ausgeben, mit Faschisten und Stalinisten, die Russland groß und die Feinde kleinmachen wollen. Aber Putin selbst ist ein Pragmatiker, er handelt stets so, wie es ihm die Umstände erlauben. An einem Krieg kann er überhaupt kein Interesse haben, und die Wiedererstehung des alten Imperiums könnte er nicht durchsetzen. Schon immer haben Exzentriker den Bürgern Russlands eingeredet, dass eine Mission zu erfüllen sei. Aber dann haben die Bürger in ihr Wodkaglas geschaut und laut gelacht. Wer hat in Russland jemals geglaubt, was die Obrigkeit versprochen hat? Und auch die Mächtigen wissen, dass es mit ihrer Macht vorbei ist, wenn sie exzentrischen Theorien Taten folgen lassen würden. Putin ist kein Hasardeur, er ist kein Ideologe und verfolgt kein klar umrissenes politisches Programm. Er ist nicht einmal der Repräsentant eines Systems. Vom Putinismus kann also keine Rede sein.

– Walter Laqueur: Putinismus. Wohin treibt Russland? Propyläen Verlag, Berlin 2015. 332 Seiten, 22 Euro.
– Walter Laqueur: Putinismus. Wohin treibt Russland? Propyläen Verlag, Berlin 2015. 332 Seiten, 22 Euro.

© Propyläen

Und dennoch gibt es auch in Russland Strukturen, die den Tag überdauern werden. Die autoritäre Ordnung ist keine Erfindung Putins, sondern Lebensform von Millionen. Die meisten Bürger wissen, dass die autoritäre Ordnung der Gegenwart der Ordnung der Vergangenheit überlegen ist, weil sie Gehorsam mit Wohlstand belohnt und ein Leben in Sicherheit ermöglicht. Die Demokratie des Westens ist kein Maßstab, an dem in Russland bemessen wird, was als Fortschritt gesehen werden muss. Manchmal genügt es, die Wirklichkeit mit den Augen der anderen zu sehen, und schon sieht man, was man nicht für möglich gehalten hatte. Laqueur wollte sich diese Anstrengung ersparen. Sein Buch reproduziert, was im Westen über Russland schon immer gesagt worden ist. Man erkennt Bekanntes, entdeckt aber nichts Neues.

Der Autor ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Jörg Baberowski

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