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Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und amtierende Vorsitzende des Bundesrats.

© dpa

Populismus und Bundestagswahlkampf: Malu Dreyer: "Wir müssen in die Hochburgen der AfD gehen"

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) über den zunehmenden Populismus von AfD und CSU, die Ängste der Menschen und den Bundestagswahlkampf.

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Frau Dreyer, es liegt ein Weihnachtsfest hinter uns, das überschattet war von dem Anschlag in Berlin. Viele Menschen haben Angst. Was muss die Politik jetzt tun?

Die Politik hat als Erstes die Aufgabe, den Menschen zu vermitteln, dass alles Erdenkliche für ihre Sicherheit getan wird. Unabhängig davon ist es aber unsere Aufgabe, besonnen zu reagieren und nicht noch populistisch weiter zu spalten.

Die CSU und Teile der Union fordern, die gesamte Flüchtlingspolitik auf den Prüfstand zu stellen. Verweigert sich die SPD dieser Neuorientierung?

Die jetzt von CSU und Teilen der Union vom Zaun gebrochene Debatte ist völlig unangemessen und trägt zur Spaltung bei. Für die SPD war immer klar: Wer in unser Land kommt, muss registriert werden, und wer keinen Anspruch auf Asyl hat, muss auch zurückgeführt werden. Im Übrigen gab es in diesem Jahr eine Reihe von Verschärfungen und Anpassungen im Asylrecht; hier muss nicht grundsätzlich neu justiert werden. Wenn die CSU weiterhin mit der verfassungskonformen Anwendung unseres Asylrechts Probleme hat, sollte sie das hinter verschlossenen Türen mit ihrer Schwesterpartei klären und die Öffentlichkeit von diesem Schauspiel verschonen.

Schon vor dem Anschlag am Breitscheidplatz war das Land gespalten. Warum hat der Populismus bei uns Hochkonjunktur?

Das hat auch damit zu tun, dass populistische Ansichten in Deutschland immer mehr Verbreitung gefunden haben. Im Sommer 2015 lag die AfD noch bei rund vier Prozent, danach, als immer mehr Flüchtlinge ins Land kamen, wurden viele Standpunkte, Thesen und auch Vorurteile sehr hart vertreten. Es wurde bewusst übertrieben, um Angst zu schüren. Die AfD hat sich da besonders hervorgetan. Diese Art der Auseinandersetzung war der Nährboden für die Spaltung. Die Zustimmung für die AfD stieg seitdem um mehr als zehn Prozentpunkte. Hier schwingt sich eine Minderheit auf und nimmt für sich in Anspruch, das ganze Volk zu sein, die AfD spielt gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aus.

Die AfD gibt Merkel die Schuld am Tod der Menschen. Was sagen Sie Bürgern, die das so glauben wollen?

Schuld an dieser schrecklichen Tat sind der oder die Täter und Menschen, die zu Hass und Gewalt aufrufen.

Wie versöhnt man jetzt, wie gewinnt man Wähler von der AfD zurück, Bürger, die beispielsweise den Euro abschaffen wollen und keinerlei Einwanderung wünschen?

Wir müssen ins Gespräch kommen. Auf einer Bürgerversammlung hat mir neulich jemand gesagt: „Ich glaube Ihnen kein Wort!“ Das fand ich gut, weil ich so mit ihm argumentieren konnte. Das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, auch mit den Zweiflern zu sprechen, aber auch unsere Standpunkte deutlich zu machen.

Was heißt Kommunikation konkret?

Wir haben in Rheinland-Pfalz angefangen, wieder von Tür zu Tür zu gehen und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Wir müssen als SPD gezielt in die Hochburgen der AfD gehen, um dort zu diskutieren. Gleichzeitig müssen wir diese Diskussionen über die sozialen Kanäle im Internet transparent machen und sie dort gezielt multiplizieren.

Dreyer wirft dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) vor, mit seinen Forderungen zur Flüchtlingspolitik die Gesellschaft weiter zu spalten.
Dreyer wirft dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) vor, mit seinen Forderungen zur Flüchtlingspolitik die Gesellschaft weiter zu spalten.

© dpa

Das wäre eine Wahlkampfstrategie?

Das ist eine Grundbedingung, um überhaupt mehr Wähler zu gewinnen.

Ist so etwas wie Versöhnung ausgerechnet im kommenden Superwahljahr möglich?

Im Wahlkampf wird die Polarisierung noch stärker werden. Es wird für die SPD darum gehen, hartnäckig und gleichzeitig achtsam diesen Menschen gegenüber zu bleiben. Denn es gibt keine einfachen Antworten, wie die AfD es suggeriert.

Was wären die richtigen Antworten?

Ernsthafte Dialoge über politische und gesellschaftliche Zusammenhänge, inhaltlicher Streit auf Augenhöhe mit den Menschen – nur so können die, die Angst haben oder sich vor dem sozialen Abstieg fürchten, wieder Vertrauen fassen zu uns Politikern.

Wovor haben die Leute so viel Angst?

Ganz besonders davor, dass sie von einem Moment auf den nächsten vor dem finanziellen Absturz stehen, obwohl man jahrelang in die sozialen Sicherungssysteme einbezahlt hat. Das darf nicht sein. Diese negative Folge der ALG-II-Gesetze sollte die SPD ändern.

Wie denn?

Ich plädiere dafür, dass wir den Ansatz, den Andrea Nahles bereits bei der Solidarrente verfolgt, auch auf Hartz IV anwenden. Ich beurteile das heute so, dass es schwierig ist, Menschen, die zwanzig, dreißig Jahre lang gearbeitet haben, mit Menschen gleichzustellen, die am Beginn ihres Berufslebens stehen oder noch nie gearbeitet haben. Ich finde, das müssen wir korrigieren.

Können Sie da ins Detail gehen?

Um den Abstiegsängsten zu begegnen, sollten wir den Menschen die Sicherheit geben, lebenslang erspartes Geld durch eine Phase der Arbeitslosigkeit nicht komplett zu verlieren. Eine gute und gerechte Möglichkeit wäre es, auch die Freibeträge für Sparvermögen stärker an der Lebensarbeitszeit zu orientieren. Ich finde es nämlich nicht in Ordnung, dass wir den 20-Jährigen wie den 60-Jährigen behandeln. Es macht einen Unterschied, ob man 30 Jahre für sein Erspartes gearbeitet hat. Und es macht einen Unterschied, wie viele Jahre man künftig vor der Rente noch haben wird. Aktuell können, abhängig vom Alter, bis zu 10 000 Euro Sparvermögen behalten werden. Das halte ich für ein langes Erwerbsleben für zu wenig, und es ist doch klar, dass viele Menschen den Verlust ihrer Ersparnisse als Abstieg und Bedrohung sehen.

Das wird Teil des Wahlprogramms?

Ich plädiere dafür, dass sich die SPD auch in ihrem Wahlprogramm dafür starkmacht, sich nicht länger an Lebens-, sondern an Arbeitsjahren zu orientieren und auch konkrete Änderungen vorzuschlagen. Eine Politik für Gerechtigkeit ist auch eine Frage der Balance. Hier haben wir die Aufgabe, mehr Balance zu zeigen und Lebensleistungen anzuerkennen.

Gibt es andere Beispiele?

Die Angst der Bürger davor, dass unser Gesundheitssystem sie nicht mehr finanzieren kann. Dafür müssen wir eine Lösung finden. Für mich ist das die solidarische Bürgerversicherung, bei der alle in einen Topf einzahlen, zum Beispiel auch die Selbstständigen.

Kann man Partei der kleinen Leute und gleichzeitig Modernisierungspartei sein?

Das funktioniert. Denn das sozialdemokratische Versprechen lautet ja, dass wir uns um alle gesellschaftlichen Gruppen kümmern. Und natürlich wollen wir das mit einer modernen Politik verbinden, die in die Zukunft weist.

Politiker benutzen immer häufiger den Begriff der Abgehängten. Vielleicht geht es gar nicht so sehr um Angst vor Armut oder um Lohn, sondern um Wertschätzung.

Sicher geht es auch um Wertschätzung. Aber ich denke, dass die sehr Ängstlichen vor allem die sind, die eher ein wenig außerhalb der Gesellschaft stehen oder eben die, die aus der Mittelschicht abzurutschen drohen. Abgehängt ist keine Frage der Einkommensklasse, sondern ein Gefühl, das manche empfinden.

Vielleicht hat sich die SPD bei dem Thema Aufstieg durch Bildung selbst eine Falle gebaut, weil viele denken, dass man ohne Abitur und Studium weniger wert ist.

Wir müssen aufpassen bei dieser Definition, es geht nicht darum, dass alle Akademiker werden müssen. Jede Ausbildung hat die gleiche gesellschaftliche Wertschätzung verdient wie ein Studium. Aber natürlich müssen wir schauen, dass jeder Bildungsweg auch jedem garantiert ist. Auch den Kindern des Metzgers, des Busfahrers, des Straßenfegers.

Malu Dreyer schreibt nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in das Kondolenzbuch in der Gedächtniskirche.
Malu Dreyer schreibt nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in das Kondolenzbuch in der Gedächtniskirche.

© Reuters

Und wenn einer weder den Master noch den Meister macht, ist er gleich viel wert?

Natürlich. Es ist unser Anliegen, dass Chancengerechtigkeit so gestaltet wird, dass jeder seinen individuellen Weg finden kann. Wir brauchen ja dringend auch die Menschen, die andere Wege gehen, etwa den dualen Ausbildungsweg.

2017 ist Bundestagswahl. Die große Koalition will in Ihrer Partei niemand mehr. Macht es Ihnen Sorgen, dass in Umfragen ein rot-rot-grünes Bündnis am unbeliebtesten ist?

Nein. Darüber mache ich mir keine Sorgen. Wir müssen erst einmal alles versuchen, um selbst stark zu werden, viel stärker als bisher. Das ist unser Job.

Wie stark denn?

Wir wollen 30 Prozent erreichen. Das muss unser Anspruch sein als Volkspartei.

Olaf Scholz sagt, mit dem richtigen Kanzlerkandidaten kann die SPD auf 30 Prozent kommen. Wer ist denn der Richtige?

Das erfahren wir dann Ende Januar.

Warum darf Hannelore Kraft sagen, dass es Sigmar Gabriel wird, und Sie nicht?

Weil ich ein zurückhaltender Mensch bin (lacht).

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