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Porträt: Hoch im Norden

Jenseits der Landesgrenze kennt ihn kaum einer, aber in Mecklenburg-Vorpommern ist Erwin Sellering nicht zu schlagen. Der SPD-Politiker aus dem Westen hat die Menschen im Osten überzeugt, indem er schlechte Nachrichten mit guter Laune pariert.

Es ist schon eine Weile her, dass sie zusammen am Brett gesessen haben. Damals, 1994, war Erwin Sellering noch ein aus dem Westen zugezogener Verwaltungsrichter und Guido Springer ein junger Mann, der keine Arbeit hatte, nur seine Leidenschaft.

Springer und Sellering trafen sich für gewöhnlich dienstagabends beim Greifswalder Sport Club, Abteilung Schach. Dort war Sellering im Frühjahr 94 nach dem Umzug aus Gelsenkirchen ohne Vorankündigung aufgekreuzt, ein freundlicher Westfale, der Schachfreunde suchte. Sechs Jahre lang spielte Sellering in der Mannschaft des SC Wettkämpfe in der Bezirksliga, bis ein anderes Spiel für ihn begann. In der Landesliga sozusagen.

Guido Springer hat den Aufstieg seines einstigen Schachpartners und Mannschaftskameraden zum Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern aus der Ferne verfolgt. Springer, heute 49, ist kein unpolitischer Mensch, aber zuerst ist er Schachspieler, es ist ein eigener Kosmos. Springer kann aus dem Stand die Vorzüge eines Damengambits erörtern. Aber wenn er erklären soll, was für ein Schachspieler der Politiker Erwin Sellering war, muss er einen Augenblick nachdenken. „Ja“, fragt er sich dann selbst: „Was war der Erwin eigentlich für ein Spieler?“

„Hallooohoo“, flötet Erwin Sellering: „Ist ja ’ne tolle Anlage hier!“ Der Regierungschef steht im Fitnessraum einer Turnhalle in Neubrandenburg, es ist der Freitag vergangener Woche, noch neun Tage bis zur Wahl. An den Geräten schwitzen Rentner, manche sind nicht sehr viel älter als er, aber keiner sieht so fit aus. Sellering wird im Oktober 62, aber er hat die Figur eines drahtigen 40-Jährigen. Falten ziehen sich nicht durch sein Gesicht. Auch das unterscheidet ihn von den Seniorensportlern in Neubrandenburg.

Dem Rentner auf dem Trainingsfahrrad zum Beispiel macht die „Sauerei“ in Torgelow große Sorgen. Die Eisengießerei Torgelow, vom Land in den vergangenen Jahren kräftig mit Fördermitteln unterstützt, hat Stellenstreichungen angekündigt. 160 Beschäftigte sollen gehen, die meisten davon Zeitarbeiter. Inzwischen verworfene Pläne des Unternehmens, einen Teil der Arbeit künftig in Polen erledigen zu lassen, haben im Land für böses Blut gesorgt. „Da werden Polen eingestellt und unsere werden entlassen“, schimpft der Rentner.

Sellering kennt das Problem, seine rot-schwarze Regierung arbeitet daran, aber er hat jetzt wenig Zeit und womöglich auch wenig Lust. Eine Minute nimmt er sich für den zornigen Rentner, spricht von der Notwendigkeit von Mindestlöhnen und der Gefahr der Abwanderung junger Arbeitskräfte, dann eilt er weiter. Nebenan warten schon die Seniorinnen von der Aerobic-Gruppe. „Ich geh’ jetzt zu den Frauen, da müsst ihr Verständnis haben“, flachst Sellering. Dann entert er den Nebenraum, wo die Damen schon mal die „Party-Kracher“-CD eingelegt haben. Sellering wirft sich sein Jackett über die Schulter und ruft: „Sehr schön, sehr schön!“

Gute Laune verbreiten – das kann er. Seit Wochen zieht der SPD-Spitzenkandidat über die Plätze und durch die Fußgängerzonen, wo er mit charmantem Lächeln rote Rosen verteilt, deren Dornen seine Helfer vorher sorgsam entfernt haben. Gern legt er älteren Wählerinnen dann kurz die Hand auf den Arm. Auch das kann Sellering: Menschen berühren, Nähe erzeugen, ohne ihnen zu nahe zu treten.

Den düsteren Zahlen seines Bundeslandes – höchste Arbeitslosenquote unter den Flächenländern, niedrigstes Lohnniveau, Rekordrate an Schulabbrechern, Überalterung – setzt Sellering einen strahlenden Optimismus entgegen. Zeigen 25 000 neue Arbeitsplätze in den vergangenen Jahren nicht, dass es aufwärts geht in Mecklenburg-Vorpommern? Bietet die Abkehr von der Atomkraft nicht gerade dem Küstenland Mecklenburg-Vorpommern riesige Chancen für gute neue Jobs in der Windkraftindustrie? Oder die hohe Dichte an Kindertagesstätten. Ist es denn kein Grund zur Freude, dass Mecklenburg-Vorpommern „in diesem Bereich bundesweit Spitze ist in Deutschland“? Na also, bloß keine Schwarzmalerei.

„Zuverlässig“, das ist das Erste, was Guido Springer zu Sellering einfällt. „Erwin war ein zuverlässiger Spieler, einer, der immer gekommen ist, wenn er einen Wettkampf zugesagt hat. Und dann war er für einen Wessi auch noch wahnsinnig nett“, sagt Springer.

„20 Jahre nach der Wende sind wir schon gut vorangekommen“, ruft Sellering den Rentnerinnen in der Neubrandenburger Turnhalle zu. „Sie sehen jedenfalls sehr zufrieden aus hier!“ Er klingt jetzt ein wenig wie jene Motivationstrainer, die ihre Kundschaft dazu bringen, über Glasscherben zu laufen. Und für einen Moment fragt man sich, ob das alles echt sein kann: seine lässige Unbekümmertheit, die gute Laune, der Optimismus.

Es sind nicht viele in der SPD, die Sellerings Politikstil für Blendwerk halten und das kurz vor der Wahl auch noch mehr oder weniger offen sagen. Tilo Braune aber hat nichts mehr zu verlieren. Braune war früher Staatssekretär unter Sellerings Vorgänger Harald Ringstorff, dann Staatssekretär bei Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe zu Zeiten von Rot-Grün. Heute leitet Braune eine Stiftung in Hamburg. „Sellering ist nach außen ein freundlicher, eloquenter Mensch. Das macht einen Teil seines Erfolgs aus“, sagt Braune. Und schiebt dann eine Spitze hinterher: „Offensichtlich liebt der Wähler Politiker, die ihn nicht mit Problemen behelligen, sondern ihm das Gefühl geben, sie würden die Dinge schon irgendwie regeln.“

Der nette Herr Sellering – ein Blender? Wahr ist, dass er im Wahlkampf kein allzu großes Interesse an scharfkantigen Auseinandersetzungen hat erkennen lassen. Aber seine Fröhlichkeit und Offenheit im Umgang mit Menschen, die erscheint echt. Vielleicht liegt das daran, dass er das Ministerpräsidentenamt erst vor knapp drei Jahren übernommen hat. Noch ist Sellering jedenfalls nicht in jenen selbstgefälligen Paternalismus verfallen, wie er etwa dem rheinland-pfälzischen Landeskönig Kurt Beck eigen ist.

Möglicherweise wirken Sellerings Strahlemann-Auftritte aber auch deshalb authentisch, weil Mecklenburg-Vorpommern für ihn tatsächlich ein Glücksfall ist. Im Westen wäre sein Aufstieg vom erst 1994 in die Partei eingetretenen SPD-Mitglied zum Justiz-, dann zum Sozialminister und schließlich zum Ministerpräsidenten nicht möglich gewesen. „Wäre er in Nordrhein-Westfalen geblieben, wäre er vielleicht Landrat geworden“, sagt ein führender Politiker aus der Bundes-SPD.

Auch sein privates Glück verdankt Sellering in gewisser Weise dem schönen, leeren Land im toten Winkel der Republik. Bei den Verhandlungen über die Föderalismusreform lernte er eine 25 Jahre jüngere Referentin aus dem Bundesfinanzministerium kennen, die er inzwischen geheiratet hat. Dass er sich bei der Amtseinführung 2008 noch mit seiner Familie hatte fotografieren lassen, um kurz darauf die Trennung bekannt zu geben, haben sie ihm in Mecklenburg-Vorpommern nicht verübelt.

Wie macht man Wahlkampf gegen einen Glückspilz? Lorenz Caffier hat auf diese Frage keine Antwort. Der Spitzenkandidat der CDU steht nach einer Podiumsdiskussion auf dem Parkplatz der Rostocker „Ostsee-Zeitung“, in der Hand eine Flasche Bier, und zuckt mit den Schultern. Das Blatt ist an diesem Donnerstag mit der Schlagzeile „SPD klar vorn“ erschienen, gestützt auf eine Forsa-Umfrage. SPD 34, CDU 27, Linke 17, Grüne sieben Prozent, FDP und NPD womöglich nicht wieder im Landtag: So sehen zehn Tage vor der Wahl die Zahlen aus, und Caffier weiß ganz genau, was sie bedeuten. Im besten Fall darf er als Innenminister einer großen Koalition von SPD und CDU wieder an Sellerings Kabinettstisch Platz nehmen. Es kann aber auch sein, dass Sellering ihn ausmustert und den Koalitionspartner CDU gegen die Linkspartei austauscht.

Caffier ist eher ein lebensfroher Typ, er hadert nicht damit, dass seine Zukunft nach diesem Wahlsonntag in Sellerings Händen liegt. Sie haben gut zusammengearbeitet in den vergangenen Jahren, der Ministerpräsident und sein Innenminister. Caffier schätzt an Sellering vor allem dessen moderierenden Politikstil: „Er lässt nicht den Larry raushängen, das mag ich.“ Dann schwingt bei dem früheren DDR-Bürger Caffier auch noch Bewunderung dafür mit, wie der Wessi Sellering es geschafft hat, von den Wählern im Nordosten als einer von ihnen wahrgenommen zu werden. „Er hat die DDR-Unrechtsdebatte als Bauchthema erkannt und es dann gnadenlos gefahren. Es war sein Ticket dafür, nicht als Besserwessi zu gelten.“

Die DDR-Unrechtsdebatte. „Ich verwehre mich dagegen, die DDR als totalen Unrechtsstaat zu verdammen, in dem es nicht das kleinste bisschen Gutes gab“, hatte Sellering im März 2009 in einem Interview erklärt. Das brachte ihm heftige Kritik in den Zeitungen ein, vor allem aber bündelweise zustimmender Briefe aus der Bevölkerung.

Kein Kalkül, nicht einmal das kleinste bisschen? Vehement bestreitet Sellering jedes eigennützige Motiv. Ihm sei es einzig darum gegangen, „dass Menschen nicht abgestempelt werden durch einen rein westlichen Blick auf den Osten“. Man kann ihm das glauben oder auch nicht.

„Ja, was war der Erwin für ein Spieler?“ Guido Springer, Sellerings früherer Schachfreund aus Greifswald, hat seine Erinnerung aufgefrischt. „Der Erwin hat auf sicheres Vorankommen geachtet, sich eine sichere Basis geschaffen, bevor er zum Angriff überging“, sagt Springer. „Wenn er die Chance hatte, eine Kombination zu spielen, also eine Figur zu opfern, um einen Vorteil zu erlangen, dann wollte er die auch nutzen.“

Guido Springer, heute Schachlehrer, wird am Sonntag nicht wählen, er ist bei einem Turnier. Seine Stimme hat er schon vorher abgegeben, per Briefwahl. Überflüssig zu fragen, für wen er gestimmt hat.

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