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David Sassoli, soll für die kommenden zweieinhalb Jahre EU-Parlamentspräsident sein.

© Frederick Florin/AFP

Nach dem Postenpoker bei der EU: Das Europaparlament kämpft um seine Selbstbestimmung

Das Parlament wollte mehr Demokratie und hat weniger bekommen. Es ist daran nicht unschuldig.

Es ist ein feierlicher Moment, trotz allem. Der italienische Sozialdemokrat David Sassoli steht an seinem neuen Platz in der Mitte des Plenums und hält seine erste Rede als neuer Parlamentspräsident. „Die EU ist kein Unfall der Geschichte“, ruft der 63-Jährige. „Wir sind Kinder und Enkel derjenigen, die es geschafft haben, ein Gegenmittel zu finden zum Nationalismus“.

Die Kopfhörer, auf denen die Übersetzung läuft, dämpfen ein wenig das italienische Pathos, mit dem die Worte vorgetragen sind. Doch Sassoli beschwört den Geist der Gründungsväter, fordert Mut und die Überwindung der nationalen Egoismen. Schließlich steht ein Fraktionsvorsitzender nach dem anderen von seinem blauen Sessel auf, um ihm zu gratulieren. Dass der ehemalige TV-Journalist Sassoli schon im zweiten Wahlgang zum Parlamentspräsidenten gewählt werden würde, war zu Beginn des Tages keineswegs absehbar. Das europäische Parlament kämpft um seine Selbstbehauptung: Der Posten des Parlamentspräsidenten war zur Verhandlungsmasse beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Brüssel geworden. Die Vereinbarung, dass nur EU-Kommissionschef werden könne, wer zuvor als Spitzenkandidat angetreten war, galt auch nicht mehr.

Statt EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber ist nun Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nominiert worden. Ob das Parlament sich auch das gefallen lässt, ist noch offen.

„Ein freies und autonomes Parlament“

Die Aufregung unter den Europaparlamentariern ist am Mittwoch jedenfalls groß. Kaum ein Wortbeitrag im Plenum, der nicht auf die Postenverteilung verweist. Der Tenor: Es könne nicht sein, dass Absprachen in Hinterzimmern getroffen würden, die das Plenum dann nur noch absegnen solle.

Gleich zu Beginn der Sitzung stellt der scheidende Parlamentspräsident Antonio Tajani fest: „Wir haben es hier mit einem freien und autonomen Parlament zu tun.“ Man werde die Wahl nicht auf „Grundlage externer Entscheidungen“ treffen. Doch der Plan des EU-Rates, in dem die Staats- und Regierungschefs sitzen, ist klar: Ein Kandidat der Sozialisten soll für die kommenden zweieinhalb Jahre Parlamentspräsident sein, damit dann ein Konservativer, nämlich Weber, den Posten übernehmen kann.

Damit das möglich ist, haben Liberale und Konservative am Mittwoch auf eigene Kandidaten verzichtet. Linke, Grüne und die rechte EKR schickten dagegen einen Vertreter ins Rennen. Den Anfang machte die Deutsche Ska Keller. Die Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen sitzt im Parlament in der ersten Reihe. „Als Abgeordnete haben wir das Mandat, das europäische Parlament zu stärken“, sagte Keller. „Wir können nicht akzeptieren, dass die Präsidentschaft dieses Hauses als Verhandlungsmasse eingesetzt wird in irgendwelchen Hinterzimmergesprächen.“

Als kleines Aufbegehren lässt sich verstehen, dass die Sozialisten im Europaparlament nicht wie vom Rat angedacht den früheren bulgarischen Ministerpräsidenten Sergei Stanischew, sondern den Italiener Sassoli ins Rennen schickten. Am Deal änderte das aber nichts.

Sven Giegold in Rage

Es ist für die Abgeordneten die bittere Erkenntnis der vergangenen Tage: Das Parlament wollte mehr Demokratie und hat weniger bekommen. Daran ist es aber selbst nicht unschuldig. „Ich hätte mir gewünscht, dass das Parlament Rückgrat bewiesen und die Wahl des Parlamentspräsidenten nicht verschoben hätte“, sagte der SPD-Europaabgeordnete Tiemo Wölken.

Das Parlament hätte den Rat sogar vor sich hertreiben können, indem es am Dienstag wie ursprünglich geplant gewählt hätte. Dann hätte der Posten nämlich nicht mehr als Verhandlungsmasse zur Verfügung gestanden. Stattdessen mussten die Parlamentarier abwarten, was in Brüssel entschieden wurde.

Den Grünen Sven Giegold brachte schließlich ein Tweet von EU-Ratspräsident Donald Tusk in Rage. Der hatte nach Abschluss der Verhandlungen auf Twitter geschrieben: „Der Rat hat sich auf die künftige Führung der EU-Institutionen geeinigt.“ Giegold antwortete: „Nein! Der Rat hat sich nur auf einen Vorschlag geeinigt. Es ist das Vorrecht des Parlaments, über die Kommissions- und Parlamentspräsidenten zu entscheiden.“ Die Äußerung Tusks sei eine arrogante Machtaneignung. „Die Parlamentarier müssen ihre Europäische Demokratie jetzt verteidigen!“ Er forderte, der Rat müsse zusagen, das Spitzenkandidaten-Prinzip künftig mit transnationalen Listen zu kombinieren.

„Es ist ein schwieriger Tag für mich“

Der größte Verlier des Postenpokers, Manfred Weber, trat am späten Dienstagabend vor die Presse. Er lächelte, aber man sah ihm die Enttäuschung an. Neun Monate lang hatte er als Spitzenkandidat für seine Partei, die EVP, gekämpft. „Es ist ein schwieriger Tag für mich“, sagte Weber. Das Personalpaket, das nun auf dem Tisch liege, sei nicht sein Paket. Doch er werde es unterstützen. „Ich bin ein Parteimitglied, ich bin ein EVP-Politiker“, sagte er. Weber zeigte sich an diesem Abend loyal.

Er machte aber auch klar, wie ärgerlich das Vorgehen des Europäischen Rates für die Europaparlamentarier ist. „Die EVP hat für ein demokratischeres Europa gekämpft. In dieser Hinsicht ist es ein trauriger Tag für uns.“ Kandidaten sollten sich in einer Kampagne vorstellen, ihr Programm und ihre Persönlichkeit präsentieren. Was Weber nicht sagt, aber impliziert: All das hat von der Leyen, die als Kommissionspräsidentin nominiert ist, nicht getan. Trotzdem sei es zu begrüßen, sagt Weber, dass die Führung der Kommission in der Hand der EVP bleiben solle.

Ursula von der Leyen hat nun bis Mitte Juli Zeit, die Parlamentarier von sich zu überzeugen. In einem Zwei-Minuten-Statement sagte sie am Mittwoch in Straßburg, sie sei „überwältigt, dankbar“ und fühle sich sehr geehrt, vom Rat vorgeschlagen worden zu sein. Sie wolle jetzt in den Gesprächen mit den verschiedenen Fraktionen viel zuhören, damit sie in 14 Tagen vor dem Parlament ihre Vision für die kommenden fünf Jahre darlegen könne.

Leyen war sichtbar bemüht, ihre Wertschätzung für die Parlamentarier zu zeigen. Am Mittwoch besuchte sie bereits die EVP-Fraktion, die sie aber ohnehin unterstützt. Der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann schimpfte dagegen, der Deal sei nicht akzeptabel. Auch die SPD-Spitze ist dagegen. Die Grüne Ska Keller bezeichnete das Ergebnis der Verhandlungen als „grotesk“. Doch von der Leyen will mit den Grünen noch reden. Und möglicherweise hilft es ihr in Gesprächen mit der SPD, dass nun zumindest der Sozialdemokrat Sassoli Parlamentspräsident geworden ist.

„Seeuntüchtig wie die Gorch Fock“

Ein Gespräch mit den Rechtspopulisten dürfte unterdessen aussichtslos sein. Sie lehnen von der Leyen als Kommissionspräsidentin ab. AfD-Chef Jörg Meuthen ließ sogleich per Pressemitteilung wissen, mit Ursula von der Leyen werde die EU-Kommission „seeuntüchtig wie die Gorch Fock“ – eine Anspielung auf das marode Segelschulschiff der Bundeswehr.

Den Rechtspopulisten spielt das Posten-Hin-und-Her in die Hände. Sie sehen ihre Kritik an der EU und ihren Institutionen bestätigt. Wenn es nach ihnen ginge, würde das europäische Parlament ganz abgeschafft.

Wie geteilt das Europaparlament mittlerweile ist, zeigte sich schon bei der Bewerbungsrede der spanischen Abgeordneten Sira Rego von der Partei Izquierda Unida, die für die Linksfraktion ins Rennen ging. Sie forderte: Wer Menschen aus dem Mittelmeer rette, müsse geschützt werden – sie bezog sich damit auf die Kapitänin Carola Rackete, der in Italien der Prozess gemacht wird. Laute Buh-Rufe kamen in der Rechtspopulisten-Fraktion auf, gegen die sie auf der linken Seite des Plenums noch lauter anklatschten.

Und so muss sich das Parlament nicht nur um die Stärkung seiner Stellung nach außen bemühen, sondern auch darum, von den Konflikten im Inneren nicht ausgehöhlt zu werden.

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