zum Hauptinhalt

Präsidentschaftskandidat: Joachim Gauck: Der Wortbürger

Die Erwartungen sind riesengroß. Ein Versöhner soll Joachim Gauck sein: zwischen Staat und Menschen, Oben und Unten, zwischen Links und Rechts. Natürlich wird er all das kaum einlösen, aber er kann etwas ganz Besonderes in die Waagschale werfen - sein eigenes Leben.

Von Antje Sirleschtov

Als der Kandidat schließlich selbst zu Wort kommt, es ist weit nach neun Uhr abends an diesem Sonntag, muss er sich erst einmal räuspern, und es sieht für einen Augenblick danach aus, als wolle er sie schützend abwehren, diese gewaltige Welle des Lobes und der Preisungen, die da gerade von ganz oben über ihn geschwappt ist.

„Historisch“, nennt Grünen-Chefin Claudia Roth mit jubelnder Stimme den Tag und hat dabei den Gipfel der abendlichen Würdigungen noch einmal erreicht. Einen „wahren Demokratielehrer“ sieht die Bundeskanzlerin in ihm. Einen, der „wichtige Impulse“ für die Globalisierung, die Lösung der Schuldenkrise und Europa geben wird. Und Sigmar Gabriel lobt überschwänglich einen Bürgerrechtler aus der DDR, der das Zeug habe, „die Kluft zwischen den Bürgern und der politischen Klasse“ zu schließen.

So viele Erwartungen, so große Hoffnungen. Bundespräsident soll Joachim Gauck werden, Staatsoberhaupt der Republik. Der erste Ostdeutsche in diesem höchsten Amt. Der Erste, den (fast) alle politischen Kräfte wollen. Noch ganze vier Wochen werden vergehen bis zu seiner Wahl. Und doch scheint Gauck schon im Moment seiner Nominierung zu etwas viel Größerem berufen zu sein: Wegweiser im Dickicht der Realität, Versöhner zwischen Staat und Bürgern, im Kampf der Kulturen, in der Schlacht von Oben und Unten, Rechts und Links. Ein „linker Bürgerlicher“, sei er, sagen die einen, ein „Freiheitskämpfer“ die anderen. „Historisch“, das war am Sonntag. Nun werden sie bald ein Transparent über der Pforte von Schloss Bellevue anbringen. „Wir sind Gauck“, wird darauf geschrieben stehen.

Er wird all diese Erwartungen natürlich nicht einlösen können. „Bin nicht Supermann und auch nicht fehlerlos.“ Er ahnt, was auf ihn zukommt, wenn er am 18. März vor dem Bundestag den Amtseid geleistet hat, wie es das Grundgesetz vorsieht: Er wird Hände schütteln, auf roten Teppichen gehen, im Ausland in Kameras lächeln und Gesetze unterschreiben müssen. Das Amt des Bundespräsidenten ist keines, in dem man Schulden abbaut, Renten erhöht und schon gar nicht eines, das seinem Inhaber die Macht zur Rettung Europas verleiht.

Und doch kann dieser Mann etwas in das Amt mitbringen, das all die reale Machtlosigkeit vergessen machen kann: das Wort. Und sein eigenes Leben. Es ist nicht geradlinig verlaufen in den letzten 72 Jahren, es war voller Brüche, voller Herausforderungen und dabei doch auch so ganz normal. Er hat etwas erlebt, er hat etwas gelernt. Und er hat den Mut, davon zu erzählen. Vier Kinder hat Gauck mit seiner ersten Frau großgezogen. Er hat sie wachsen, er hat sie weinen sehen, er hat mit ihnen Fußball gespielt. Und dann hat er am Zug gestanden in Rostock, 1987, als die ersten von ihnen sich entschlossen, der Familie, also ihm, dem Vater, und seiner Heimat, der DDR, den Rücken zu kehren. Sie waren noch keine dreißig damals, seine Söhne, und es hätte ein Abschied für immer werden können. Der Vater hat seine Kinder trotzdem nicht zurückgehalten.

Er ist geblieben, freiwillig. In dem Land, von dem er später im Rückblick sagen wird, es habe dort keine Bürger gegeben, sondern nur „Insassen“. 16 Millionen Insassen in einem Gefängnis, „festgehalten und eingeschlossen“. So schreibt es der künftige Präsident aller Deutschen in einem kleinen weißen Büchlein, das jetzt in den Buchläden liegt. „Freiheit“ steht darauf, 20 mal 15 Zentimeter misst es, nur 62 Seiten. Festgehalten und eingeschlossen „wie in einer Krankenanstalt“? Das sagt Gauck 22 Jahre nach dem Fall der Mauer allen Ostdeutschen. Denen, die bis zum Schluss an den Weg zur besseren, weil nichtkapitalistischen Gesellschaft geglaubt haben. Denen, die zu schwach waren für den Widerstand, die ihr Leben, ihr einziges, einfach nur leben wollten. Und natürlich auch denen da draußen im Westen, vor den Gittern der Anstalt: Verzicht auf Gewalt, schreibt Gauck in dem Büchlein, „kann auch bedeuten, Aggressoren den Weg zu ebnen, ihren Terror zu dulden“. Was für Sprengstoff in diesen Worten. Für die Ostdeutschen, für die Westdeutschen, aber auch für die Gesamtdeutschen. Am 18. März wird gewählt. Und man darf sicher sein: Über das weiße Büchlein der „Freiheit“ wird noch zu sprechen sein, wenn aus dem Insassen Gauck in knapp vier Wochen das Oberhaupt des Staats geworden sein wird.

"Der Täter muss bei seiner Schuld ankommen"

Wobei wir mittendrin sind im Leben des Joachim Gauck. Ein Leben, das er weit mehr als zur Hälfte in der DDR verbracht hat. Und das ihn, mittelbar, auch danach noch, als er viele Jahre Chef der Stasi-Unterlagenbehörde war, beschäftigt hat. Im Guten wie im Bösen. Dem südafrikanischen Bischof Desmond Tutu hat Gauck einst in einem Interview die Notwendigkeit erläutert, die Stasi-Akten für ihre Opfer transparent zu machen und dafür zu sorgen, dass die Täter von gestern nicht in öffentlichen oder gar politischen Ämtern von morgen unterkriechen. Die südafrikanische Art der Aufarbeitung der Verbrechen von Weißen an Schwarzen, ihre Versöhnungskommission, ihr Verzicht auf Ausgrenzung und Bestrafung; das alles schien dem Stasi-Unterlagenchef Joachim Gauck nicht sinnvoll, wenn es darum geht, Diktaturen aufzuarbeiten. „Der Täter muss bei seiner Schuld ankommen“, hat Gauck mit festem Wort Tutu, dem Versöhner, entgegengehalten. Und dann geschwiegen, als der ihm entgegnete: „Wir sind alle Sünder.“

Doch Gauck wäre nicht Gauck, wenn da nur eine Dimension aufschiene. Es gibt natürlich mehrere, das macht die Faszination seiner Person aus, die Kraft, die er mitbringt in das hohe Amt. Denn er war beileibe nicht nur der Staats-Jäger aller Mielke-Getreuen. Als die Behörde ihre Arbeit aufnahm Anfang der 90er, behielt ihr Chef einen Teil der sozialistischen Garde in seinen Diensten. Nicht nur an den Pforten, wo sie den Schutz der brisanten Aktenberge vor ungewolltem Zugriff zu sichern hatten. Auch in den Archiven, dort, wo schwarz auf weiß stand, wer Täter war und was er den Opfern antat, hat Joachim Gauck sie beschäftigt. Er hat seine Entscheidung nicht nur verteidigt – mit der Notwendigkeit, die Wissensträger von gestern an der Aufarbeitung zu beteiligen. Er hat sie auch später noch gerechtfertigt. „Beim Bundesbeauftragten wurden am 1. Januar 1997 noch 15 ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des MfS als Angestellte bzw. als Arbeiter beschäftigt“, ließ er den Bundestag Ende der 90er wissen, obwohl die Zahl zu diesem Zeitpunkt weit höher lag. Gutachter haben später den Satz geschrieben: „Diese Auskunft war falsch.“ Was, ins Politische übersetzt, nichts anderes heißen kann, als dass Joachim Gauck den Bundestag belogen hat. In Hannover hat eine Lüge vor dem Parlament gerade dazu beigetragen, Gaucks Vorgänger Christian Wulff aus dem Amt zu treiben. „Bei aller Verschiedenheit“ hat Angela Merkel ihrer Lobpreisung für den überparteilichen Kandidaten am Sonntag hinzugefügt. Und man darf sich spätestens an dieser Stelle fragen, wie sie das wohl gemeint haben mag.

Bürgerrechtler Gauck – für viele Deutsche, zumal solche, die die DDR vor allem von den Holztribünen kannten, die man einstmals rund um die Berliner Mauer aufgestellt hatte, klingt das heroisch, irgendwie nach mutigem Widerstand. Doch war der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck wirklich ein Widerstandskämpfer gegen die Diktatur des Honeckerregimes? Gauck selbst hat an einer solchen Legende nicht mitgestrickt. Aus der Unmündigkeit und dem Schweigen der Menschen in der DDR aufzustehen, sich offen aufzulehnen: Auf einen solchen Schritt ist der Pfarrer, der in den letzten Wochen der DDR in der Rostocker Kirche St. Marien gepredigt und mit seinen Worten Tausende erreicht hat, die vorher nie auf die Idee gekommen wären, in eine Kirche zu gehen, in all den Jahrzehnten nicht gekommen. War es aus Angst, verhaftet zu werden? Aus Sorge um die Seinen? Oder vielleicht war da ein ganz eigener Widerstand in ihm? Es wird darüber mit dem Staatsoberhaupt gesprochen werden.

Denn die Geschichte, die Joachim Gauck seither mit sich trägt, die er den Menschen in Büchern und auf Bühnen erzählt, ist nicht die Geschichte eines Che Guevara, der mit Feuerwaffen todesmutig für Freiheit und Gerechtigkeit in die Schlacht gezogen ist.

Gaucks Geschichte ist die des Erwachens, aus der Unmündigkeit hinein in die Freiheit: Auch für sie steht sein eigenes Erleben, das macht seinen rhetorischen Kampf für die Freiheit für viele Menschen so glaubwürdig, so authentisch. Wenn Gauck von Freiheit spricht, dann mag das gelb-blaue Liberalenherz höher schlagen. Doch der Mann meint nicht diese Freiheit, er meint vielmehr die Selbstbefreiung. Und er nennt sie „Verantwortung“. Sein Mauerfall, das war der Weg eines Unmündigen, der aufstand, seinen Weg aus der „Krankenanstalt“ zu gehen.

Ein Weg, der in dieser Zeit so schwer und auch so leicht zugleich war. Damals, im Herbst 1989, als er zum ersten Mal von seiner kirchlichen Kanzel herabgestiegen und sich in die erste Reihe der Rostocker Bürger-Demonstrationen gestellt hat. „Wie einfach war es“, sagt Gauck im Rückblick über diesen Moment, „und wie verbunden waren wir alle miteinander, als wir ablehnten, was uns klein machte und uns zu nutzlosem Beiwerk des Staates erklärte“. Und wie schwer, sich aus dieser Wärmestube zu befreien. Den Moment, als er selbst aktiv wurde, wird Gauck später als den beschreiben, der ihn zum Bürger gemacht hat. Den Wert und die Kraft des Wortes; beides kannte der Pfarrer aus Rostock bis dahin sehr genau. Der entscheidende Augenblick war jedoch, Verantwortung zu übernehmen, herauszutreten aus der schweigenden Menge.

Joachim Gauck hat in den vergangenen Monaten eine Menge unpopulärer Sätze gesagt. So hat er etwa Kritiker der Finanzmarktkrise zur Mäßigung aufgerufen. Und zum Thema Hartz IV sagte er: „Wir stellen uns nicht gerne die Frage, ob Solidarität und Fürsorglichkeit nicht auch dazu beitragen, uns erschlaffen zu lassen.“ Worte eines Mannes, dem seit seiner ersten Kandidatur für das höchste Staatsamt 2010 die Herzen der meisten Deutschen gehören. Am 18. März muss er heraustreten aus der Menge. Dann ist er Bundespräsident. Erster Bürger des Staates mit einer Verantwortung weit über den Hall seiner Worte hinaus. Wie damals, im Herbst 1989, als er herunterkam von der Kanzel.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false