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Prag 1968: Das jähe Ende eines Frühlings

In der DDR zerstörte 1968 der Einmarsch der Sowjets in Prag viele Hoffnungen – und erzeugte Wut.

Von Matthias Schlegel

Berlin - Prag ist im Frühjahr und Sommer 1968 ein Mekka für freiheitshungrige junge Leute aus der DDR. Denn was westliche Sender berichten, hört sich so ganz anders an als die schneidigen Warnungen vor der Konterrevolution, die im Ulbricht-Staat verbreitet werden.

Bernd Eisenfeld, ein junger Mann aus Halle, macht sich im Mai mit zwei seiner Brüder an die Moldau auf. Sie diskutieren mit Journalisten über die neuen Möglichkeiten, sie besuchen Galerien und sind beeindruckt von den Freiräumen der Künstler. Der 18-jährige Werner Schulz, der gerade sein Abi gemacht hat und sich immer wieder am Widerspruch zwischen Marx und dem DDR-Alltag gerieben hat, fährt mit einem Freund im Juli nach Prag. Sie trinken Pilsner im „U Fleku“, atmen Freiheit in Straßencafes. Sie sind überzeugt: Dieser demokratische Sozialismus wird hinüberschwappen in die DDR. Erhart Neubert, 28-jähriger Pfarrer im thüringischen Niedersynderstedt, hat seit längerem Kontakt zu tschechischen Theologen, die Predigtverbot hatten und während des Prager Frühlings wieder in ihr Amt zurückkehren durften. Nun fährt er zu ihnen nach Prag und Brno, lässt sich von der Aufbruchstimmung anstecken.

Wenig später folgt der Schock. In der Nacht zum 21. August rücken sowjetische Panzer in die Tschechoslowakei ein, der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wird niedergewalzt. „Für uns waren Träume brutal niedergeschlagen worden. Uns war doch Dubcek näher als Dutschke, obwohl der aus Luckenwalde kam“, erinnert sich der Bürgerrechtler Werner Schulz an seine 68er-Sozialisation.

Als sich Schulz im Herbst 1968 an der Berliner Humboldt-Uni immatrikulieren lässt, sollen alle eine Erklärung unterschreiben, dass sie zur Niederschlagung der Konterrevolution stehen. Schulz verdrückt sich. Seine Mutter beschwört ihn zu unterschreiben, sonst verbaue er sich sein ganzes Leben. Er tut es, „und ich fühlte mich kotzübel“. Dieser „schlimme Opportunismus“ führt ihn geradewegs in den Widerstand. Als Ende 1979 die Russen in Afghanistan einmarschieren, rehabilitiert sich Schulz vor sich selbst: Wieder soll er eine Resolution unterschreiben, er verweigert es und räumt seine Assistentenstelle an der Uni. „Ich war erwachsen geworden.“

Für Bernd Eisenfeld verläuft dieser Prozess geradliniger – und schmerzhafter. Zwei Tage nach dem Einmarsch in Prag schickt er ein Telegramm an die CSSR- Botschaft in Berlin: „Halten Sie stand. Behalten Sie Hoffnung“. In Halle verteilt er selbst gefertigte Flugblätter mit einer Lenin-Definition des Begriffs „Annexion“. Er wird wegen staatsfeindlicher Hetze zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, die er bis zum letzten Tag absitzen muss.

Andere kommen glimpflicher davon: Thomas Brasch etwa, der 23-jährige Sohn des stellvertretenden DDR-Kulturministers und spätere namhafte Autor und Regisseur, verteilt ebenfalls Flugblätter. Mit ihm werden seine Freunde Frank und Florian Havemann, die Söhne des Regimekritikers, Erika Berthold, die Tochter des Direktors des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, und andere verhaftet. Brasch wird zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Wenig später profitieren er und seine Freunde von einer Amnestie.

Erhart Neubert erfährt von der Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August 1968 in Eisenach. Auf dem Marktplatz stehen Leute in Grüppchen, diskutieren, Rufe werden laut. Die Sicherheitsorgane registrieren in diesen Tagen tausende Vorkommnisse in der DDR. Aber weil es noch keine organisierte Opposition gab, sei es nicht zu organisierten Demonstrationen gekommen, sagt Neubert, Autor eines profunden Werkes über Opposition in der DDR. Der Einmarsch in Prag sei „für die einen das Zeichen gewesen, dass eine Reformierung des Sozialismus keine Chance hat und in die Sackgasse führt. Andere bestärkte es in der Ansicht, am Projekt eines verbesserlichen Sozialismus festzuhalten“, sagt er. Als sich Anfang der 70er Jahre die Opposition in der DDR langsam zu formieren begann, sei „der Impuls von Prag erhalten geblieben“ – in der übergroßen Mehrheit allerdings als Bestreben, das System zu liberalisieren, nicht es zu überwinden.

„Viele hatten 1968 die Illusion verloren, dass sich ein demokratischer Sozialismus aus dieser Partei selbst heraus entwickeln könnte. Man musste von unten etwas machen“, sagt Werner Schulz, früherer bündnisgrüner Bundestagsabgeordneter. Frieden, Menschenrechte, Umwelt – mit diesen Themen wuchs später unter dem Dach der Kirchen unabhängiges bürgerschaftliches Engagement. „1989 haben sich die meisten bei Demonstrationen oder am Runden Tisch wiedergetroffen“, erinnert er sich. Das sei der Unterschied zwischen den 68ern in Ost und West: „Sie haben die Revolution versucht und Reformen erreicht. Wir haben Reformen versucht und eine Revolution erreicht.“

Bernd Eisenfeld dagegen resümiert, dass der Niederschlagung des Prager Frühlings zunächst eine „depressive Phase“ in der DDR gefolgt sei. Viele von denen, die wegen ihres Protestes hinter Gitter gewandert waren, hätten – wie er selbst – wegen der Aussichtslosigkeit des Widerstands die DDR verlassen. Der Großteil der Bevölkerung aber habe sich zunehmend angepasst. Außer in einigen kirchlichen Räumen sei der Gedanke vom „dritten Weg“ nicht mehr präsent gewesen. „Er tauchte erst mit Gorbatschow Mitte der 80er Jahre wieder auf“, sagt Eisenfeld. Zwar habe ihn 1989 die überwiegend antikapitalistisch und protestantisch geprägte Opposition noch vertreten. Doch er sei „nicht mehr in den Herzen der Leute gewesen“. Deshalb sei im Herbst 1989 dem Ruf nach Demokratisierung der DDR schnell die Forderung nach der Wiedervereinigung gefolgt.

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