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Politik: Prager Altlasten

EU-Kommissar Günter Verheugen kam nach Prag, um einen Streit zu schlichten - und Tschechien zu beruhigen. Die Benes-Dekrete, die 1945 zur Enteignung und Vertreibung von mehr als drei Millionen Deutschen und Ungarn geführt haben, seien kein Fall für die EU, kein Thema der Beitrittsverhandlungen und damit auch kein Hindernis für Tschechiens EU-Beitritt.

EU-Kommissar Günter Verheugen kam nach Prag, um einen Streit zu schlichten - und Tschechien zu beruhigen. Die Benes-Dekrete, die 1945 zur Enteignung und Vertreibung von mehr als drei Millionen Deutschen und Ungarn geführt haben, seien kein Fall für die EU, kein Thema der Beitrittsverhandlungen und damit auch kein Hindernis für Tschechiens EU-Beitritt. So lässt sich die gemeinsame Erklärung von Verheugen und dem tschechischen Premierminister Milos Zeman zusammenfassen. "Nach heutigen Standards beurteilt" würden zwar einige Dekrete den EU-Ansprüchen nicht standhalten: "Aber sie gehören der Vergangenheit an."

Die EU, so formuliert das knappe Papier weiter, beurteile Kandidatenländer nach ihrem gegenwärtigen Erscheinungsbild, nicht nach der Vergangenheit. Und in "sorgfältiger Prüfung" habe sich herausgestellt, dass gerade die Dekrete über Enteignung und Entzug der Staatsbürgerschaft "heute keine Rechtswirkungen mehr entfalten". Unmissverständlich fügte Verheugen hinzu: Mit der Frage nach Rückerstattung von Eigentum befasse sich die EU nicht, das sei ausschließlich Sache Tschechiens.

Doch in Tschechien ist das Thema längst zum Wahlkampfrenner geworden; mit ihm schüren beide Großparteien die Emotionen. Ausgerechnet in Liberec (Reichenberg), also mitten im einstigen Sudetenland, präsentierte die konservative Bürgerpartei (ODS) des früheren Premiers Vaclav Klaus ihr sechstes von zehn Wahlkampfthemen: die "Verteidigung nationaler Interessen". "Auf Kosten unseres Landes", sagt die ODS, "versuchen Deutschland, Österreich und Ungarn einen geeigneten Moment zu nutzen, die Nachkriegsordnung umzustoßen". Tschechien stehe unter Druck; das Eigentum seiner Bürger sei in Gefahr, wenn man die Benes-Dekrete in Frage stelle. "Das hätte nur neues Unrecht zur Folge", sagt Vaclav Klaus.

Aber auch die regierenden Sozialdemokraten (CSSD) lehnen jede Änderung an den Dekreten ab. CSSD-Chef Vladimir Spidla sagt, es wäre "intellektuelle Überheblichkeit", heute über Entscheidungen von damals zu rechten. Vertreibung und Enteignung seien "unveränderliche, unantastbare" Folgen des Zweiten Weltkriegs. Innerparteiliche Diskussionen darüber sehe er "beunruhigt", sagt Spidla - und deswegen hat die CSSD alle Mitglieder dazu verpflichtet, "nationale Interessen zu verteidigen".

Die von Wahlrede zu Wahlrede zugespitzte Hervorhebung des "Nationalen" und das Herbeireden einer Bedrohung von außen hat scharfen Protest in der tschechischen Öffentlichkeit hervorgerufen. Bisher haben mehr als 250 Intellektuelle, Prominente, Journalisten und Kirchenleute einen Aufruf "Stopp dem Nationalismus!" unterschrieben. Sie fordern eine offene Diskussion über die Benes-Dekrete und lehnen es ab, "schmerzliche Probleme der Vergangenheit" zum "Schüren nationaler Hysterie" zu missbrauchen.

Die Wähler zeigen sich indes bisher vom Thema unbeeindruckt. 52 Prozent, so eine Umfrage, interessieren sich für die Benes-Dekrete nicht. 57 Prozent stimmen dem Satz zu, Tschechien habe keinen Grund, auf die Dekrete zurückzukommen; nur 12 Prozent sind für deren Beibehaltung - wenn auch mit dem Zusatz, man solle ihren undemokratischen Charakter eingestehen.

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