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Politik: Praxistext in Westfalen

Beim Parteitag in NRW will SPD-Landeschef Schartau von Schröder und Müntefering Änderungen verlangen

Die Erinnerung an Bochum ist plötzlich wieder ganz lebendig. Noch Minuten nach dem Ereignis standen Gerhard Schröder und Wolfgang Clement konsterniert in einem kargen Nebenraum hinter der Bühne, ihre Gesichtszüge verrieten eine Mischung aus Unverständnis und Wut. In den Stunden zuvor hatte sich die sozialdemokratische Basis ausgetobt und den Kanzler nicht nur kritisiert, sie hatte ihn so offen beschimpft, dass er, obwohl nicht zart besaitet, am Ende nur noch kleinlaut versprechen konnte, er wolle sich bessern. Das Ganze spielte am 2. Oktober 1999, wenige Tage nach der für die Genossen verheerenden Niederlage bei den Kommunalwahlen in NRW. Die Westlichen Westfalen hatten den Kanzler zu ihrem Parteitag eingeladen, aber was sich da abspielte, hatte die Qualität eines Tribunals. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde Schröder als Genosse der Bosse angegangen, es wurde über seine Zigarren hergezogen, wie es nicht einmal der politische Gegner getan hat.

An diese Szenen mag sich Schröder erinnert haben, als er in dieser Woche die Entscheidung zum Rückzug aus dem Parteivorsitz traf, denn am kommenden Samstag muss er wieder nach Bochum, in exakt die gleiche Halle wie vor fünf Jahren. Dieses Mal stehen die Genossen aus dem größten Bundesland vor einer Kommunalwahl, und damit die nicht genauso verloren geht wie jene 1999, wollen sie ihm sagen, was sie an seiner Politik stört. Darauf werden sie nun nicht verzichten, aber er kann damit rechnen, dass sie ihren Ton mäßigen. Erstaunlich schnell haben die Parteifreunde zwischen Rhein und Weser umgeschaltet; nach den ersten Kommentaren unter der Überschrift „Panik in Berlin" lautet die Wortwahl über die neue Spitze Franz Müntefering, den Westfalen, und Gerhard Schröder nun anders. „Zusammen ist das ein unschlagbares Duo“, spielt Landeschef Harald Schartau jetzt den Optimisten und schiebt nach: „Ich habe sie beide für Bochum verpflichtet". Was sie erwartet, zeichnet sich jetzt schon ab. Im Parteivorstand hat Schartau an die Debatte über das „Leitbild Gerechtigkeit“ erinnert, die zwar kürzlich beim Bundesparteitag – in Bochum – beschlossen wurde, über das seither aber niemand diskutiert hat. Es hat allenfalls einen Anruf in der Parteizentrale in Nordrhein-Westfalen gegeben; jemand wollte wissen, was sie in Düsseldorf unter sozialer Gerechtigkeit verstehen.

Die Delegierten werden es Schröder und Müntefering erklären. „Wenn den Kommunen bei einer Gemeindereform mehr Geld versprochen wird, und sie stellen jetzt aber fest, dass sie weniger in der Kasse haben, dann stimmt etwas nicht“, schimpft Norbert Römer, der Vorsitzende der Westlichen Westfalen. Als Gewerkschafter knallen ihm die Kumpel die Parteibücher auf den Tisch, sie legen massenhaft die Bescheide über die erhöhten Krankenkassenbeiträge hinzu. „Die haben an den Vertrauensschutz geglaubt und fühlen sich betrogen. Das geht so nicht.“ Auch die umstrittene Praxisgebühr muss für Römer wie Schartau geändert werden. „Was hat das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun?“, fragt der Landesvorsitzende und verweist auf Modelle aus der Knappschaft, wo inzwischen Verbundsysteme zwischen Krankenhäusern und Ärzten angeboten werden, die auf die Gebühr verzichten.

Ministerpräsident Peer Steinbrück hat sich auch mehr als einmal über die Berliner Vielstimmigkeit geärgert, seine Kritik zielt weniger auf Veränderungen bei den Reformen als vielmehr auf das Verhalten der eigenen Truppe. „Die Kritik aus der dritten Reihe ist unsäglich“, attackiert er die selbsternannten Berater von Schröder, die, wie der Saarbrücker Heiko Maas, offenbar Schröders Kanzlerkandidatur infrage stellen. „Wir müssen deutlich disziplinierter werden“, verlangt er, „und ansonsten deutlich machen, wir stehen für einen handwerklich sauberen Reformkurs“. An diesem Punkt springt ihm Schartau wieder bei. Der verlangt Disziplin – von der Berliner Ministerrunde: „Schröder muss das Kabinett an straffere Zügel nehmen.“

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