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"Wir sitzen hier halt falsch." Am Ende werden es 27 Demonstranten sein, die sich Freitagfrüh von Polizisten wegtragen lassen.

© dapd

Preis des Widerstands: Sitzblockade der S 21-Gegner: "Das ist wie Falschparken"

Die Polizei räumt ein Lager der Gegner des Bahn-Projektes Stuttgart 21 ohne Zwischenfälle. Die Strategie der Polizei ist aufgegangen.

Das Schlimmste, sagt Myriam Rapp, 47, sei „die Lethargie eines Großteils der Bevölkerung“. Sie dagegen kämpft weiter gegen Stuttgart 21 und für den Erhalt des alten Kopfbahnhofs. Für ihren Widerstand hat sie eine Windel und ein Fahrradbügelschloss gekauft. Das Schloss hängt um ihren Hals, sie hat sich damit an das Gitter eines Fensters am Südflügel des Hauptbahnhofs gekettet. „Die Bahn versucht, Dinge zu zerstören, bevor klar ist, ob das Projekt überhaupt gebaut werden kann“, sagt die 47-Jährige. Diesen Unsinn wolle sie aufhalten. Sie weiß nicht, wann man sie losmacht. Deshalb die Windel.

Es ist dunkel und kalt, als die Polizei am Freitag um drei Uhr in der Früh anrückt. Es ist der erste Großeinsatz in Stuttgart seit dem 30. September 2010. Damals hatten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer und Pfefferspray eingesetzt, damit im Schlossgarten für Stuttgart 21 Bäume gefällt werden konnten. Es gab Verletzte und blutige Bilder. Seitdem hat sich viel verändert. Die Regierung hat die Farben gewechselt und die Stuttgarter Polizei ihren Chef. Der Volksentscheid hat eine Mehrheit für S 21 gebracht – und eine Schwächung des Widerstands.

Etwa 800 sind gekommen, um gegen die geplanten Vorarbeiten zum Abriss des Südflügels zu protestieren. „Der 30. September wiederholt sich“, ruft ein Demonstrant beim Anblick der Polizei. „Bravo“, ein anderer. Bläser intonieren die Nationalhymne. Die Stimmung schwankt zwischen Wut und Ironie. Es gibt Sprechchöre gegen Winfried Kretschmann, den grünen Ministerpräsidenten, von dessen Wahl sich die Gegner das Ende des Milliardenprojekts versprochen hatten.

Eine Ordnerin erklärt den Sitzblockierern die Folgen. Der Preis fürs Wegtragen, erläutert sie übers Megafon, liege zwischen 50 und 80 Euro. „Das ist der Preis des Widerstands.“ Einzustufen sei das Ganze als Ordnungsstrafe. „Das ist wie Falschparken. Wir sitzen hier halt falsch.“ Am Ende werden es 27 Demonstranten sein, die sich wegtragen lassen.

Dass die Strategie der Polizei aufgehen wird, ahnt Thomas Züfle früh. Und doch klingt der Stuttgarter Polizeipräsident für einen Moment enttäuscht. Es ist kurz vor sechs Uhr, hinter Züfle stehen unzählige Einsatzkräfte, direkt vor ihm sitzen keine 50 Demonstranten mehr. Eben hat er sich mit Matthias von Herrmann unterhalten, dem Sprecher der „Parkschützer“. Es ist, nach Lage der Dinge und mit den Ereignissen des 30. September 2010 im Hinterkopf, ein entspanntes Gespräch gewesen. „Wir sind die Stärkeren, aber das ist für uns kein Triumph“, hat Züfle gesagt. Die Fernsehaufnahmen, die zeigen, wie Polizisten Demonstranten wegtragen, seien „Negativbilder für Grün-Rot, nicht für Sie“, hat von Herrmann erwidert. So ist das hin und her gegangen, bis Züfle die Hand ausstreckt. „Nee, das kommt nicht gut an bei der Bewegung“, sagt Herrmann. „Feigling“, erwidert Züfle da. Er tut dies mit einem Augenzwinkern und doch auch ein wenig enttäuscht.

Als die Räumung beginnt, sind die meisten Demonstranten schon nach Hause oder zur Arbeit gegangen.

Dabei ist der Ablauf des Einsatzes für alle eine Erleichterung. Anders als im September 2010, als Züfle noch nicht die Verantwortung trug, beginnt der Polizeieinsatz diesmal in der Nacht. Das schränkt die Zahl der Demonstranten ein. Die Gegner dürfen das Gelände vor dem Südflügel bis zur Räumung jederzeit verlassen, aber rein kommt keiner mehr. Statt Wasserwerfer hat Züfle Antikonfliktteams mitgebracht. Er setzt auf Zeit, Personal und Besonnenheit. „Die machen Schichtwechsel, und unsere Ablösung lassen sie nicht rein“, erkennt ein Stuttgart-21-Gegner den Vorteil der abwartenden Polizeitaktik. Als die Räumung beginnt, mit direkten Ansprachen und Wegtragen, sind die meisten Demonstranten schon nach Hause oder zur Arbeit gegangen.

Am längsten hält sich Myriam Rapp. Mit dem Bolzenschneider kommt die Polizei ihrem Fahrradschloss nicht bei. Sie trennt schließlich mit einer Flex einen Teil des Fenstergitters ab, da ist es 8 Uhr 30 und der Einsatz beendet. Stunden später beginnt die Bahn mit den Vorbereitungen für den geschossweisen Abbau des Südflügels. Acht Wochen veranschlagt sie dafür.

Aufatmen kann die Bahn indes noch nicht. Noch immer fehlt ihr die Genehmigung für die Fällung und Versetzung von 176 Bäumen im Schlossgarten. Falls sie dafür in den nächsten Tagen grünes Licht erhält, kommt auf Stuttgart der nächste Großeinsatz zu. Dass die Polizei zweimal mit Tausenden Beamten anrücken müsse, sei „keine gute Lösung“, rügt Thomas Züfle die Bahn.

„Wir sitzen hier halt falsch.“ Am Ende werden es 27 Demonstranten sein, die sich Freitagfrüh von Polizisten wegtragen lassen.
„Wir sitzen hier halt falsch.“ Am Ende werden es 27 Demonstranten sein, die sich Freitagfrüh von Polizisten wegtragen lassen.

© dpa

Wenn es an die Bäume geht, wird Myriam Rapp wieder Widerstand leisten. Sie wird dann mit Sicherheit mehr Mitstreiter haben. Der nächste Großeinsatz, weiß auch Züfle, wird heikler werden. Immerhin ist die Generalprobe geglückt.

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