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Boris Johnson im britischen Unterhaus

© AFP PHOTO /JESSICA TAYLOR/ UK Parliament

Premier vor großen Aufgaben: Wie viele Feinde kann Boris Johnson sich leisten?

Wirtschaft, Brexit und Ärger in der eigenen Partei: Welche Herausforderungen auf den britischen Premier Boris Johnson warten – und wen er dafür braucht.

Ein normaler Premierminister würde nach der Aufregung der ersten 48 Stunden wohl ein wenig regieren: Gesetzesvorlagen abzeichnen, Kabinettsausschüssen präsidieren, befreundete Partnerländer besuchen. An Boris Johnson ist nichts normal. Kaum waren Minister und Staatssekretäre ernannt, da ging der 55-Jährige bereits im Land auf Werbetour.

Offiziell handeln seine Ansprachen von der Bekämpfung der Kriminalität: Binnen zwei Jahren sollen landesweit 20.000 zusätzliche Polizisten auf Verbrecherjagd gehen. In Wirklichkeit will Johnson mit seinen Reden in England und Schottland für sich und seinen unbedingten Willen zum Brexit Ende Oktober werben.

Womöglich handelt es sich auch um den Startschuss zu vorgezogenen Neuwahlen, wohl in der Hoffnung, auf diese Weise einige seiner Herausforderungen beiseitezuräumen.

Die Union aus England, Schottland, Wales und Nordirland

„Premierminister und erster Lord des Schatzkanzleramtes“ ist er ohnehin, zusätzlich hat sich Johnson den etwas albernen Titel eines Unionsministers verliehen. Im Unterhaus schwärmte er vom „tollen Vierer“ („awesome foursome“), aus dem das Vereinigte Königreich besteht. Doch Schotten und Nordiren stimmten mit 62 und 56 Prozent für den EU-Verbleib und stehen dem englischen Brexit-Vormann skeptisch gegenüber. In Nordirland entzweit zusätzlich die Grenze die Gemüter (siehe unten).

Im Norden hat sich Johnson gleich zwei mächtige Schottinnen zu Feinden gemacht. Die hochpopuläre konservative Regionalchefin Ruth Davidson hält gar nichts von dem chaotischen Brexit („No Deal“), auf den die Londoner Regierung zuzusteuern scheint. Diese Sorge treibt auch die Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der schottischen Nationalpartei SNP um.

In einem Brief warnten sie und der Leiter der Regionalregierung von Wales, Mark Drakeford (Labour), vor „katastrophalen Folgen für alle Regionen“: Allein in Schottland stünden mehr als 100.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Sturgeon forderte erneut Londons Einwilligung in ein zweites Unabhängigkeitsreferendum, fünf Jahre nach dem 55:45-Votum der Schotten fürs Zusammenbleiben. Sollte der „No Deal“ Wirklichkeit werden und die erwarteten harten Konsequenzen zeitigen, dürfte die Abspaltungsbewegung stärker werden.

Wirtschaft und Brexit

Mächtige Verbündete haben die Regionalregierungen in den Wirtschaftslobbys des Landes: Unisono halten diese einen „No Deal“ für katastrophal, der Verband der verarbeitenden Industrie Make UK spricht sogar vom „Gipfel ökonomischen Irrsinns“. Die unabhängige Budgetbehörde OBR warnt vor einer Rezession, selbst vorsichtige Wirtschaftsforscher prognostizieren geringeres Wachstum.

Kabinettsbürominister Michael Gove soll die „No Deal“-Vorbereitungen verstärken, unter anderem mit einer PR-Offensive im September. Die Armee bereitet 8500 Soldaten vor, um etwaige Unruhen wegen Lebensmittel- oder Medikamentenengpässen im Keim zu ersticken.

Irische Grenze und EU-Verhandlungen

Die „antidemokratische“ Auffanglösung für Nordirland müsse aus dem EU-Austrittsvertrag getilgt werden, hat Johnson gefordert und von technischen Alternativen gesprochen, mit denen die innerirische Grenze durchlässig bleiben könne. Damit beißt er in Dublin und Brüssel auf Granit. Gut möglich, dass der Konservative dies auch anstrebt: Seht her, könnte die neue Regierung in London dem Volk sagen, die bösen Europäer spielen nicht mit, der „No Deal“ ist ohne Alternative.

Feinde in Partei und Opposition

Von einer „wall of opposition“ spricht Winston Churchills Enkel Nicholas Soames, einer aus dem kleinen Häuflein der verbliebenen liberalkonservativen Abgeordneten. Der bisherige Finanzminister Philip Hammond könnte ihr Anführer werden bei parlamentarischen Versuchen, den „No Deal“ aufzuhalten. Freilich bleibt dafür wenig Zeit: Der Sommerpause bis Anfang September folgt 14 Tage später eine sitzungsfreie Periode während der jährlichen Parteitage von Liberaldemokraten, Labour und Tories.

Angesichts des Durcheinanders in der Labour-Party ist keineswegs gesichert, dass die Oppositionsfraktionen geeint abstimmen. Doch würde ein Dutzend Tories genügen, um den „Scharlatan mit großem Talent zu Schwindeleien“, wie der Abgeordnete Dominic Grieve seinen Parteichef nennt, zu stoppen. Dann hätte Johnson, nach der Zurückweisung durch die EU-Verbündeten, einen zweiten Feind: das Parlament. Neuwahlen wären unausweichlich.

Angesichts solcher Herausforderungen wirkt Königin Elizabeth II ziemlich weise. Sie könne gar nicht verstehen, soll die 93-Jährige dem 14. Premierminister ihrer Amtszeit gesagt haben, „warum irgendjemand den Posten haben will“. Dass Johnson die Bemerkung prompt weiterplauderte, verstieß massiv gegen die Gepflogenheiten: Die Gespräche zwischen Monarchin und Regierungschef sind eigentlich strikt vertraulich. Johnson schert das nicht. Genau diese Attitüde, gepaart mit optimistischer Rhetorik über die „goldene Ära“ für die Insel, könnte ihm eine Mehrheit verschaffen.

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