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Für eine Ikone reicht es nicht. Erdogans Sieg wird in der internationalen Presse nicht gerade gefeiert.

© dpa

Pressestimmen zum Referendum in der Türkei: "Den Jahrhunderttest haben Präsident und AKP nicht bestanden"

Das Ja der Türken beim Referendum am Sonntag ist in der internationalen Presse ein kontroverses Kommentarthema. Ein Überblick.

Die konservative tschechische Zeitung „Lidove noviny“ schreibt: „Die Tatsache, dass die Türken ein Präsidialsystem gewählt haben, stellt die Welt nicht auf den Kopf. Eher zeigt es die Dinge so, wie sie sind - nämlich, dass die Türken das Führerprinzip der liberalen Demokratie vorziehen. Das interessanteste Detail versteckt sich woanders: Die größten Bastionen des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind neben den ländlichen Regionen die türkischen Wähler in Deutschland, Dänemark, Belgien und Österreich. Die Vorstellung, dass aus seit Generationen in der EU lebenden Türken neue deutsche Weltbürger werden, ist gescheitert.“

Die italienischen Tageszeitung "La Repubblica" betont: „Das unerwartete Ergebnis von Sonntag hat uns gezeigt, dass dieses große Land resistent ist gegen die Verrücktheiten seines Anführers. Nach dem Urnengang sollte Erdogan nun einen ,respektvollen Dialog’ mit allen politischen Kräften führen. Er sollte vor allem besonnener werden.“
In der spanischen Zeitung „La Vanguardia“ heißt es: „Dieses Ergebnis hatte wohl niemand gewollt. Nicht einmal Erdogan. Das äußerst knappe Ergebnis und vor allem die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Auszählung tragen nicht dazu bei, seine Autorität zu stärken. Diejenigen, die von Sieg sprechen, können dies nicht tun, ohne noch andere Wörter hinzuzufügen: Pyrrhussieg, minimal, eng, bitter, umstritten. Ein großes Paradox in der modernen Türkei ist, dass Erdogan, der sich selbst oft als allmächtiger Herrscher darstellt, sich bedroht fühlt. Und das Ergebnis des Referendums wird dazu beitragen, dieses Gefühl noch zu verstärken.“

Die bulgarische Zeitung „Trud“ blickt voraus: „Nach dem Referendum kann man folgerichtig einen neuen Angriff auf die Prinzipien des weltlichen Staates erwarten und auch einen stärkeren Druck auf alle, die den Präsidenten (Recep Tayyip Erdogan) nicht unterstützen. Nach dem Referendum erwachte die Türkei gespalten in zwei Teilen, zwischen denen es eine tiefe Kluft gibt. Es handelt sich um einen Unterschied bei der Zivilisationsansicht, wie sich der Staat entwickeln soll. Die Spannung wird wachsen.“

Außenpolitische Konsequenzen sieht die russische Zeitung „Wedomosti“: „Auf der Suche nach Unterstützung seiner traditionellen Anhänger wird Erdogan eine populistischere Politik machen und die Schrauben anziehen. Dies erhöht das Risiko unvorhersehbarer Schritte vor allem im Syrien-Konflikt, wo die Zusammenarbeit mit Russland erneut einer Konfrontation weichen könnte.“

In Belgien kommentierte die Zeitung „De Morgen“: „Präsident Erdogan sagt goldene Zeiten für die Türkei ab 2023 voraus, dem 100. Jahrestag der türkischen Republik. Doch wenn er dieses Imperium auf den wirtschaftlichen Pfeilern aufbauen will, denen die Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Wachstum ihres Wohlstands verdankte, kann er sich eine weitere Entfremdung vom Westen nicht leisten.“

Die „Neue Zürcher Zeitung“ aus der Schweiz fasst zusammen: „Den Jahrhunderttest, islamische Normen und rechtsstaatliche, demokratische Regeln zu vereinbaren, haben der türkische Präsident und seine AKP nicht bestanden.“

Im britischen „Guardian“ heißt es: „Mit der Umsetzung dieser Reformen wird die Türkei fast in ein Sultanat verwandelt - nahezu 100 Jahre, nachdem Atatürk auf den Ruinen des Osmanischen Reichs die türkische Republik gründete. Für Europa und für die westlichen Verbündeten der Türkei in der Nato dürfte diese Transformation bedeutende Folgen haben. Die ohnehin schon angespannten Beziehungen werden sich weiter verschlechtern. Und das zu einer Zeit, da die Kooperation der Türkei in der Flüchtlingsfrage besonders wichtig ist.“

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