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Politik: Preußen: "Zu lange galt nur schwarz oder weiß"

Am 7. März 2001 haben Königin Elisabeth II und ich in London eine Ausstellung von Bildern deutscher Maler des 19.

Am 7. März 2001 haben Königin Elisabeth II und ich in London eine Ausstellung von Bildern deutscher Maler des 19. Jahrhunderts eröffnet. Unter dem Titel "Geist eines Zeitalters" wurden Werke von Caspar David Friedrich, Karl-Friedrich Schinkel, Max Liebermann, Lovis Corinth und anderen großen Künstlern gezeigt. Im Mittelpunkt der Ausstellung standen elf Gemälde Adolph von Menzels. Für viele Menschen ist er der Illustrator preußischer Geschichte schlechthin. Wer kennt nicht sein "Flötenkonzert"? Auch dieses Bild war in London ausgestellt - und ihm gegenüber hing sein "Eisenwalzwerk".

In einem Raum der Spannungsbogen eines Malers, eines Jahrhunderts und eines Landes: Preußen. Beide Bilder versinnbildlichen, jedes für sich und beide zusammen, Vielfalt und Widerspruch, Größe und Schattenseiten, eben die ganze "Janusköpfigkeit" Preußens, wie Madame de Staël schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Preußen charakterisiert hat. Friedrich II.: Liebhaber der Musik und Briefpartner Voltaires - aber eben auch rücksichtsloser Krieger und zynisch kalkulierender Machtmensch. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts: Technischer Fortschritt, wirtschaftlicher Aufschwung und Sozialgesetzgebung - aber gleichzeitig Dreiklassen-Wahlrecht, Weber-Elend und Sozialistengesetz.

Preußen - zu oft und zu lange galt nur schwarz oder weiß; Geist und Geschichte Preußens wurden entweder verklärt oder verurteilt. Haltung und Historie werden oft für politische Zwecke instrumentalisiert. Darunter hat auch noch das Preußenbild im geteilten Deutschland gelitten. 2001 ist das erste "Preußenjahr" im geeinten Deutschland. Die zeitliche Distanz gibt uns die Chance, Preußen gelassener und ruhiger zu verstehen zu suchen. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen.

Was verbindet mich selber mit Preußen? Als ich 1931 geboren wurde, gehörte meine Heimatstadt Wuppertal zu Preußen - einem demokratischen und modernen Land, das bis in die letzte Phase der Weimarer Republik politisch ungleich stabiler war als das Reich oder die meisten anderen Länder. Natürlich fühlte man sich im Westen des Landes nicht gleichermaßen als Preuße wie in den Kernlanden Brandenburg-Preußens, auch wenn "Preußen" immer mehr Idee und Haltung als eine geografische Bezeichnung war. Heute wird aber oft vergessen, welche Ausdehnung Preußen besaß: nach 1918 umfasste es drei Fünftel der Fläche des Deutschen Reiches, fünf Achtel der deutschen Bevölkerung lebte in Preußen, in einem Land, das sich von Tilsit bis Trier und von Flensburg bis Fulda erstreckte.

Zehn Länder der Bundesrepublik Deutschland haben Preußens Erbe angetreten, darunter das Land, das ich selber zwanzig Jahre als Ministerpräsident regiert habe. Wichtige Gebiete des früheren Preußen gehören heute zu Polen und Russland. Im "Preußenjahr" 2001, das vor allem in Berlin und in Brandenburg gefeiert wird, ist auch das nicht ganz in Vergessenheit geraten: Das ganze Jahr über läuft eine Spendenaktion, mit deren Erlös das Königstor in Kaliningrad, dem früheren Königsberg, restauriert werden soll.

Preußen - das war eben stets auch die Summe seiner Landesteile und der Leistungen seiner Landeskinder aus allen Provinzen. Preußen - dafür steht der Schlesier Gerhard Hauptmann genauso wie der Rheinländer Heinrich Heine, der Märker Otto von Bismarck wie der Kölner August Bebel, die Königsbergerin Käthe Kollwitz wie die Wuppertalerin Else Lasker-Schüler, der Berliner Max Liebermann wie der Märker Theodor Fontane, der Westpreuße Kurt Schumacher wie der Kölner Konrad Adenauer, die Ostpreußin Marion Gräfin Dönhoff wie der Berliner Sebastian Haffner.

Als Ministerpräsident habe ich mich darum gekümmert, dass in Nordrhein-Westfalen die Erinnerung an den langen und prägenden Abschnitt preußischer Geschichte wach gehalten wird. In Minden und Wesel ist je ein Preußenmuseum begründet worden, das 350 Jahre preußische Geschichte im Westen Deutschlands dokumentiert. Schon Friedrich II. wusste, was er an seinen westlichen Landeskindern hatte: "Die aus dem Fürstentum Minden haben Verstand. Das ist das beste Volk der Welt, fleißig, arbeitsam und treu", vermerkte er 1768. In Westfalen hat der Freiherr vom Stein mit der bäuerlichen Selbstverwaltung die Erfahrungen gesammelt, die Grundlage seiner großen Reformprojekte waren. Dass der rheinische Karneval bis heute auch preußische Uniformen parodiert, ist eine liebenswürdige Erinnerung an das selbstbewusste und deshalb gelegentlich auch distanzierte Verhältnis, das den Westen mit den preußischen Kernlanden verband.

In Berlin ist Preußen heute natürlich ungleich gegenwärtiger als im Rheinland oder in Westfalen. Einen großen Teil ihres kulturellen und architektonischen Reichtums verdankt unsere Bundeshauptstadt der Tatsache, dass sie früher nicht nur deutsche Hauptstadt, sondern auch die Hauptstadt des größten deutschen Landes war. Manche Nöte und Sorgen der heutigen Berliner Kulturlandschaft sind vor diesem Hintergrund leichter zu verstehen.

Als Amtssitz des Bundespräsidenten dient das Schloss, das der jüngste Bruder Fried-richs des Großen hat bauen lassen - praktisch und freundlich, nicht pompös oder großartig. Dass es den französischen Namen "Bellevue" trägt, entspricht der sprachlichen Mode seiner Entstehungszeit; Name und Geschichte des Ortes zeigen aber auch die Weltoffenheit Preußens im 18. Jahrhundert: Das Bellevue steht an einem Platz, den König Friedrich Wilhelm I. von Preußen zu Beginn des 18. Jahrhunderts hugenottischen Glaubensflüchtlingen zur Bewirtschaftung überlassen hatte. Das Schloss entstand in den Jahren, als das Preußen Friedrichs des Großen und die jungen Vereinigten Staaten von Amerika, vertreten durch Benjamin Franklin, einen Handelsvertrag abschlossen, der zum ersten Mal Menschenrechte in unserem heutigen Sinne zum Bestandteil einer völkerrechtlichen Vereinbarung machte. George Washington hat ihn den liberalen Vertrag genannt, der je zwischen zwei unabhängigen Mächten zustande gekommen sei.

Friedrich II. ist neben Bismarck wohl die preußische Persönlichkeit, an der sich im besonderen Maße die Geister scheiden. Wie das bei großen Persönlichkeiten ist, gibt es gute Gründe für Verurteilung wie für Bewunderung. Gewiss ist es richtig, dass sein außenpolitisches Handeln, seine Kriege, im Zusammenhang der Zeit gesehen werden müssen - dem von Macht dominierten Konkurrenzkampf der großen europäischen Staaten. Aber Preußens Größe und Bedeutung baute auch auf dem Leid der Menschen in vom Krieg verheerten und verarmten Ländern auf. Dennoch haben seine Untertanen vor allem den "Alten Fritz" wohl tatsächlich verehrt. Der Staat, den er geschaffen hat, verkörperte viel von dem, wofür Preußen im Guten steht.

Preußen war kein Nationalstaat, sondern eine Staatsnation. Ihr lag keine Vision zugrunde, sondern zunächst nur die schlichte Notwendigkeit, unverbundene und teils weit auseinander gelegene Territorien zusammen halten und für ihren Aufbau Menschen aus anderen Ländern gewinnen zu müssen. "Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren", so hat Friedrich II. angemerkt, "so würden wir ihnen Kirchen und Moscheen bauen."

Zur nüchternen Einsicht in die Notwendigkeit gesellte sich die ehrliche Überzeugung, dass Toleranz die beste Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben sei, dass die "Gazetten nicht genieret werden" sollten und dass eben "ein jeder nach seiner Facon selig werden" können müsse. "Alle Religionen sind gleich und gut", so ebenfalls Friedrich II., "wenn nur die Leute, so sie bekennen, nur ehrliche Leute sind". Preußen fiel es leichter als anderen Ländern, Fremde aufzunehmen oder Bedrängten Asyl zu gewähren - Böhmen und Niederländer, Salzburger und Franzosen. Juden hatten es auch in Preußen schwerer als Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, und dennoch trifft wohl Gordon Craigs Einschätzung zu, dass "Brandenburg-Preußen von allen deutschen Staaten die größte Toleranz gegenüber Juden zeigte".

Noch in unserem Grundgesetz finden sich die Spuren preußischen Toleranzdenkens: der Wortlaut des Artikels 33, dass "der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte ... unabhängig von dem religiösen Bekenntnis" ist, geht bis in die Formulierung hinein auf die preußische Verfassung von 1850 zurück.

Verwundert es da, dass gerade jene, die in den Genuss dieser Toleranz kamen, in besonderem Maße preußisch dachten und handelten? Napoleon dürfte wohl enttäuscht gewesen sein, als ihn ausgerechnet der Sprecher der französischen Gemeinde in Berlin 1806 mit den Worten empfing: "Ich wäre ... des Königs, dem ich diene, nicht würdig, wenn ich die Anwesenheit Eurer Majestät an diesem Orte nicht mit den größten Schmerzen sähe". Wer so dachte, war eben nicht nur "Bürger" sondern im wirklichen Sinne "Staatsbürger". Nationalismus hatte daher in Preußen auch keine Chance, Fuß zu fassen, solange die Idee des Staatsbürgers und der Staatsnation lebendig war.

Täte uns mehr preussisches Pflichtgefühl, ja Pflichterfüllung gut? Ein solcher Gedanke ist nicht ohne merkwürdigen Beigeschmack: Ist es nicht die Kultivierung jener Sekundärtugend gewesen, mit deren Hilfe die Nationalsozialisten ganz Europa und mit ihm Deutschland ins Verderben führten? Sebastian Haffner hat dazu angemerkt, dass Pflichterfüllung richtig und angebracht war, "solange der Staat, dem man diente, ordentlich und anständig blieb. Die Grenzen und Gefahren der preußischen Pflichtreligion haben sich erst unter Hitler gezeigt".

Nicht nur Pflichtgefühl lässt sich missbrauchen, wenn falsche Ziele gesetzt werden. Mein Vorgänger Theodor Heuss hat daher die Haltung jenes Herrn von der Marwitz als "die moralische Substanz Preußens" bezeichnet, auf dessen Grabstein vermerkt ist, das er Ungnade wählte, wo Gehorsam nicht Ehre brachte. War es Zufall, dass unter den führenden Männern des Nationalsozialismus kaum ein Preuße war? Die führenden Köpfe des deutschen Widerstandes waren dagegen ganz überwiegend Preußen. Die Gefahr falsch verstandener Pflichterfüllung sahen sie genau: "Von wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen", hat Henning von Tresckow im April 1943 in der Potsdamer Garnisonskirche gesagt.

Nein, es gab keine historisch unausweichliche Entwicklung "von Bismarck zu Hitler", wie gelegentlich behauptet worden ist. Auch die Tatsache, dass die nationalsozialistische Propaganda sich in besonderem Maße preußischer Bilder und Legenden bediente, kann das nicht glauben machen. Missbrauch allein sagt nichts über den Wert einer Sache oder einer Tradition aus, weiß schon Thomas von Aquin. Auch die SED hat bekanntlich - vergeblich - versucht, der DDR durch den Rückgriff auf Preußen eine nationale Legitimation zu verschaffen. Die selektive Anknüpfung an Geschichte, Charakter und Traditionen gehört aber wohl auch zum Schicksal Preußens: Bis heute stößt man auf Sichtweisen und Urteile, die Preußen einseitig verdammen oder überhöhen, auf ein "halbiertes Preußentum".

Aus dem Ideal der Pflichterfüllung leitet sich vieles von dem ab, was gemeinhin als "preußische Tugenden" bezeichnet wird. Natürlich sind sie weder genuin noch exklusiv preußisch. Sie haben freilich wohl tatsächlich die Haltung besonders vieler Menschen dieses Landes ausgezeichnet. Jede Tugend kann Vorbild und Richtschnur des Handelns sein - und jede kann missbraucht werden, wenn sie in den Dienst falscher Ziele gestellt oder ohne Rückbindung an das Gewissen ausgeübt wird: Arbeits- und Leistungsbereitschaft, Fleiß und Sparsamkeit, Disziplin, Rechtschaffenheit und Unbestechlichkeit, Bescheidenheit und das Hintanstellen der eigenen Person. Wir leben zum Glück nicht länger in einem Obrigkeitsstaat, der solche Tugenden von seinen Bürgern einfordern könnte oder sollte. Dennoch: Die Grundwerte unserer Verfassung blieben tote Buchstaben, wenn sich niemand verpflichtet fühlte, sie mit Leben zu erfüllen und sich dort einzumischen, wo es um ein allgemeines Interesse geht.

Was sagt uns Preußen heute noch? Preußen, darauf ist oft hingewiesen worden, ist vor allem eine tiefe Spur in unserer Vergangenheit. Preußen ist eben da, ein großer Block in unserer Geschichte, unübersehbar, ob wir nun wollen oder nicht. Seine Geschichte kann man sich nicht aussuchen, man muss sich ihr stets ganz stellen und sie wird immer Licht- und Schattenseiten haben. Man kann sich ihr so wenig entziehen, wie man sich der Größe des eigenen Landes, seiner Lage, oder der Tatsache entziehen kann, dass man mit mehr Nachbarn friedlich auskommen muss als sonst ein Staat in Europa. Das alles galt für Preußen und das alles gilt für das Deutschland unserer Tage.

Preußen, das ist ein überreiches kulturelles Erbe, das mit Namen wie Schlüter, Knobelsdorff und Schinkel, mit Schadow und Kleist, mit den großen Malern der romantischen Schule, mit Kant, Fichte und Humboldt verbunden ist. Der Bildungs-, der Rechts- und der Soialstaat unserer Tage hat preußische Wurzeln - mag der Bildungsstaat auch nicht nur der Aufklärung, sondern auch nüchternem Zweckdenken zu danken sein und der Sozialstaat gleichermaßen gutsherrlichem Paternalismus wie fortschrittlichem Denken.

Preußen ist Geschichte und begegnet uns doch ständig: Preußisch-Oldendorf und preußischblau, die "Stiftung Preußischer Kulturbesitz" und "der preußische Ikarus", Borussia Dortmund und die schwarz-weißen Trikots der Fußball-Nationalmannschaft. Wer auf dem Leipziger Bahnhof auf die Abfahrt seines Zuges wartet und sich nicht in den Trubel der Einkaufspassage stürzen will, kann sich in die Ruhe des "Preußischen Wartesaals" zurückziehen. Welche Assoziationen bieten sich an... Preußen erscheint uns merkwürdig fern und ist doch in Vielem, oft ganz unauffällig, gegenwärtig. Alle liegt hier dicht beieinander: Aufklärung und Krieg, Gewissenhaftigkeit und Anmaßung, Pflichterfüllung und Großsprecherei, moderner Staat und Gutsherrschaft.

All das müssen wir sehen, wenn wir "Preußen ohne Legende" betrachten wollen, wie Sebastian Haffner es gefordert hat. Dann können wir erkennen, dass es auch Traditionslinien und Einstellungen gibt, die es lohnt, beleuchtet und wiederentdeckt zu werden.

Die vollständige Fassung dieses Aufsatzes des Bundespräsidenten erscheint in dem Band "Preußen 1701/2001", den Karl-Günther von Hase und Reinhard Appel im Econ-Verlag herausgeben.

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