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Mario Varga Llosa, peruanischer Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger und freiheitsliebender Liberaler.

© dpa

Privatbesitz und Rechtstaatlichkeit: Was bedeutet Liberalismus?

Die Freiheit als Grundwert, politisch und wirtschaftlich – das kennzeichnet den Liberalismus. Davon ist der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa überzeugt. Basis dieser Freiheit seien Privatbesitz und Rechtstaatlichkeit. Ein Bekenntnis.

Ende August sprach der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa auf der 5. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften vor 17 Wirtschaftsnobelpreisträgern und mehr als 450 Nachwuchsökonomen aus über 80 Ländern über die Bedeutung des Liberalismus. Die Stiftung organisiert die jährliche Veranstaltung, um Nobelpreisträger mit jungen Wissenschaftlern aus aller Welt zusammenzubringen. Der Tagesspiegel dokumentiert Auszüge der Rede des Literaturnobelpreisträgers.

"Ich danke dem „Kuratorium für die Tagungen der Nobelpreisträger in Lindau“ für die Einladung, diesen Vortrag zu halten, weil bei dieser Einladung nicht nur meine literarische Tätigkeit, sondern auch meine Ideen und politischen Ansichten berücksichtigt wurden.
In der Welt, in der ich mich am häufigsten bewege, in Lateinamerika, den USA und Europa, folgt dem Lob, das meinen Romanen und Essays von Einzelpersonen oder Institutionen gezollt wird, üblicherweise der Zusatz: „Das heißt aber nicht, dass wir seine Vorbehalte oder politischen Ansichten teilen.“ Ich habe mich zwar an diese zweigeteilte Wahrnehmung meiner Person gewöhnt, bin aber glücklich darüber, am heutigen Tag als ganzes Individuum wahrgenommen zu werden und nicht dieser schizophren anmutenden Doppeldeutung ausgesetzt zu sein.
Nun ist es an der Zeit, meinen politischen Standpunkt zu erläutern.

Der Liberalismus wird überall anders verstanden

Ich fürchte, es reicht nicht zu behaupten, ich sei ein Liberaler. Schon dieser Begriff selbst birgt die erste Komplikation. Wie Sie bestimmt wissen, hat das Wort „liberal“ unterschiedliche, oft sogar gegensätzliche Bedeutungen, je nachdem, von wem und wo es gebraucht wird. Meine Großmutter Carmen etwa nannte einen Mann „liberal“, wenn er einen lockeren Lebenswandel pflegte. Die prototypische Reinkarnation eines Liberalen war für sie ein legendärer Vorfahre von mir, der seiner Frau erzählte, dass er eine Zeitung kaufen gehe und nie zurückkehrte. Seine Familie hörte nichts mehr von ihm, bis er 30 Jahre später in Paris starb.
In den Vereinigten Staaten ist das Wort „liberal“ politisch links konnotiert. In Lateinamerika und Spanien dagegen, wo dieses Wort geprägt worden war, um Rebellen zu beschreiben, die gegen die Besatzung durch Napoleon kämpften, nennen sie mich einen Liberalen – oder, schlimmer noch, einen Neoliberalen –, um mich zu diskreditieren, weil die politische Perversion unserer Semantik den ursprünglichen Terminus transformiert hat. Statt eines freiheitsliebenden Menschen, der sich gegen Unterdrückung erhebt, bezeichnet „liberal“ konservative oder reaktionäre Ansichten.

In Lateinamerika war der Liberalismus eine fortschrittliche intellektuelle und politische Philosophie, die sich im 19. Jahrhundert gegen Militarismus und Diktatur stellte, die Trennung von Staat und Kirche sowie die Gründung einer demokratischen, zivilgesellschaftlichen Kultur forderte. In den meisten Ländern wurden Liberale von den brutalen Regimen, die mit Ausnahme von Chile, Costa Rica und Uruguay überall auf dem Kontinent prosperierten, verfolgt, ins Exil getrieben, ins Gefängnis geworfen oder umgebracht.
Im 20. Jahrhundert dann war die Revolution – und eben nicht die Demokratie – höchstes Ziel der politischen Avantgarde. Und diese Leidenschaft teilten auch viele junge Menschen, die gern dem Beispiel Fidel Castros gefolgt wären. Vor diesem Hintergrund wurden Liberale als Konservative, als Verteidiger des Status quo angesehen und nur wenige waren noch mit den ursprünglichen Ideen und wahren politischen Zielsetzungen des Liberalismus vertraut.

Der Liberalismus ist keine Ideologie - sondern eine offene Lehre

Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts setzte ein Wandel ein, und der Liberalismus wurde als Position erkannt, die sich von der marxistischen Linken ebenso klar abhebt wie vom Rechtsextremismus. Dieser Wandel wurde nicht zuletzt möglich, zumindest so weit er die kulturelle Sphäre betraf, durch den Mut und das Engagement des mexikanischen Poeten und Essayisten Octavio Paz und der von ihm herausgegebenen Zeitschriften „Plural“ und „Vuelta“. Nach dem Mauerfall in Berlin, dem Kollaps der Sowjetunion und der Verwandlung Chinas in einen kapitalistischen (wenn auch autoritären) Staat, entwickelten sich auch in Lateinamerika neue politische Ideen, und der Freiheitsgedanke gewann spürbar an Bedeutung.
Der Liberalismus ist keine Ideologie, sondern eine offene, entwicklungsfähige Lehre, die sich in die gegebene Realität einbringt, statt der Realität selbst Veränderungen aufzuzwingen, weshalb es unter bekennenden Liberalen unterschiedliche Strömungen und zwischen ihren Ansichten bedeutende Diskrepanzen gibt.

Meinungsunterschiede sind gesund

Agnostiker, wie ich einer bin, ebenso wie Verfechter einer Trennung von Kirche und Staat, treten für die Entkriminalisierung von Abtreibung, Schwulenehe und Drogenkonsum ein und ernten manchmal harsche Kritik von anderen Liberalen, die in diesen Belangen konträre Ansichten haben. Solche Meinungsunterschiede sind jedoch gesund und sinnvoll, sie verletzen auch nicht die Grundprinzipien des Liberalismus: das Bekenntnis zur Demokratie, zur freien Marktwirtschaft und zum Primat der Interessen des Individuums gegenüber denjenigen des Staates.

Die Wirtschaft verschafft dem Leben keinen Sinn

Guido Westerwelle trimmte seine FDP zu einer Ein-Thema-Partei des Wirtschaftsliberalismus. Nicht in Vargas Llosas Sinne.
Guido Westerwelle trimmte seine FDP zu einer Ein-Thema-Partei des Wirtschaftsliberalismus. Nicht in Vargas Llosas Sinne.

© Kai-Uwe Heinrich

Es gibt Liberale, die in der Wirtschaft die Lösung aller Probleme und im freien Markt ein Allheilmittel sehen, das Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung beseitigt. Solche Liberale, nachgerade lebende Algorithmen, haben der Freiheit manchmal mehr Schaden zugefügt als die Marxisten – die eigentlichen Vorkämpfer der absurden These, dass die Wirtschaft die treibende Kraft der Geschichte ist. Das stimmt einfach nicht. Ideen und Kultur sind es, die den Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarentum ausmachen, nicht die Wirtschaft. Diese kann im Alleingang vielleicht auf dem Papier schöne Resultate produzieren, aber sie verschafft dem Leben keinen Sinn. Der freie Markt ist der beste existierende Mechanismus, um reiche Menschen zu produzieren und – wenn er mit dem sinnvollen Aufbau von Institutionen und einer Kultur der Demokratie einhergeht – den materiellen Wohlstand einer Nation in jene spektakulären Höhen zu treiben, die uns vertraut sind. Aber der freie Markt ist ein unnachgiebiges Instrument, das ohne eine spirituelle und intellektuelle Komponente, die von der Kultur repräsentiert wird, das Leben zu einem grausamen, selbstgerechten Kampf machen kann.

Der Liberale, wie ich einer sein möchte, betrachtet die Freiheit als Grundwert. Die Basis dieser Freiheit sind Privatbesitz und Rechtstaatlichkeit; dieses System garantiert ein Minimum an Ungerechtigkeit und ein Maximum an materiellem und kulturellem Fortschritt, es beugt am wirksamsten der Gewalt vor und verschafft den Menschenrechten die größte Achtung. Nach dieser Interpretation des Liberalismus ist Freiheit ein einziges und einheitliches Konzept. Politische und ökonomische Freiheit sind so untrennbar wie die zwei Seiten einer Medaille.
Freiheit als solche wurde in Lateinamerika oft nicht verstanden, weshalb viele Versuche der Demokratisierung gescheitert sind. Entweder respektierten die jungen Demokratien zwar die politische, nicht aber die ökonomische Freiheit, was unweigerlich zu noch mehr Armut, Ineffizienz und Korruption führt; oder autoritäre Regime gelangten an die Macht, die überzeugt waren, dass nur eine eiserne Hand und eine repressive Staatsführung das Funktionieren des freien Marktes garantieren können.

Misstrauen gegenüber der Macht ist die zweite Natur des Liberalen

Ein demokratisches Staatssystem, Pressefreiheit und der freie Markt sind Grundpfeiler einer liberalen Position. Aber so formuliert, haben die drei nur eine abstrakte, mathematische Bedeutung, die sie enthumanisiert und ihrer Bedeutung für das alltägliche Leben der Menschen nicht gerecht wird. Liberalismus ist unendlich viel mehr als diese eher abstrakten Begriffe. Er bedeutet Toleranz und Respekt für andere, und ganz besonders für diejenigen, die anders sind und anders denken als wir selbst, die anderen Bräuchen folgen und einen anderen Gott – oder gar keinen – verehren. Die Bereitschaft, mit denen zusammenzuleben, die anders sind, war vielleicht der außergewöhnlichste Schritt auf dem Weg des Menschen zur Zivilisation. Ein Schritt, welcher der Demokratie vorausging und sie überhaupt erst möglich machte; der entscheidender als jede wissenschaftliche Entdeckung und jedes philosophische System dazu beitrug, den Machtwillen des Menschen zu zähmen. In ihm liegt auch die Quelle jenes instinktiven Misstrauens gegenüber der Macht, das uns Liberalen zu einer Art zweiter Natur geworden ist. Wir kommen nicht ganz ohne Macht aus, außer natürlich in den hübschen Utopien der Anarchisten. Doch Macht kann kontrolliert und ausbalanciert werden. Denn die Freiheit innerhalb einer Gesellschaft bemisst sich am Grad der Autonomie, welche die Bürger in der Gestaltung ihres Lebens und in der Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele genießen.

Liberale Parteien? Für manche Denker ein Unding

Der Kollektivismus war eine unumgängliche Frühphase der Menschheitsgeschichte, als das Individuum noch untrennbar mit der Sippe verbunden und sein Überleben von ihr abhängig war. Doch der Kollektivismus lebte durch die Jahrhunderte in Ideologien und Lehren fort, die den Wert des Individuums primär in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe sahen, sei sie nun durch Rasse, Klasse, Religion oder Nationalität definiert. All diese Doktrinen – Nationalsozialismus, Faschismus, religiöser Fanatismus, Kommunismus, Nationalismus – sind natürliche Feinde der Freiheit und erbitterte Gegner des Liberalismus. Der große liberale Denker Ludwig von Mises lehnte die Idee liberaler Parteien klar ab. Seiner Meinung nach würden solche politische Gruppierungen die Essenz des Liberalismus verraten, indem sie ihn monopolisierten und in den Dienst parteiinterner Machtkämpfe zwingen. Vielmehr sollte die liberale Philosophie seiner Meinung nach eine generelle Denkkultur sein, die sich allen politischen Strömungen und Bewegungen in einer offenen, demokratischen Gesellschaft mitteilt. Es steckt viel Wahrheit in dieser Theorie. In der jüngeren Vergangenheit haben wir konservative Regierungen gesehen – etwa jene Ronald Reagans, Margaret Thatchers oder José Maria Aznars –, die essenziell liberale Reformen initiierten; und anderseits nominell sozialistische Staatsoberhäupter – Tony Blair, Ricardo Lagos in Chile oder dieser Tage Ricardo Mujica in Uruguay –, deren Wirtschafts- und Sozialpolitik nur mit dem Wort „liberal“ adäquat zu beschreiben ist.

Der Populismus ist das Haupthindernis des Fortschritts in Lateinamerika

Die Kirchners - gelten dem Literaturnobelpreisträger Vargas Llosa als Inbegriff der Populisten.
Die Kirchners - gelten dem Literaturnobelpreisträger Vargas Llosa als Inbegriff der Populisten.

© dpa

Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht mehr die Ideologie der Revolution, sondern der Populismus Haupthindernis des Fortschritts in Lateinamerika. Man kann Populismus auf vielerlei Arten definieren; am treffendsten wohl als eine demagogische Sozial- und Wirtschaftspolitik, welche die Zukunft des Landes einer vergänglichen Gegenwart opfert. Auf diese Weise hat die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner den Kurs ihres verstorbenen Gatten fortgesetzt –mit feuriger Rhetorik, Nationalisierungen, Interventionismus, Überwachung, Unterdrückung der unabhängigen Medien; eine Politik, die eines der potenziell wohlhabendsten Länder dieser Erde an den Rand des Abgrunds geführt hat.
Sogar viele Linke haben mittlerweile widerstrebend der Privatisierung von Pensionsfonds zugestimmt – dies ist bis heute in elf lateinamerikanischen Ländern geschehen – während die rückwärtsgewandte Linke in den USA sich weigert, die sozialen Sicherungssysteme zu privatisieren.
Diese lateinamerikanischen Beispiele beweisen eine gewisse Modernisierung der Linken, die damit auch zugibt – ohne es jedoch selbst anzuerkennen – dass der Weg zum ökonomischen Erfolg und zu sozialer Gerechtigkeit nur mit Hilfe der Demokratie und des Marktes gegangen werden kann. Dies ist eine Einsicht, die wir Liberalen lange gepredigt haben.

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