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Die Bürgermeisterin der Brüsseler Gemeinde Molenbeek, Françoise Schepmans.

© picture alliance / dpa

Problem-Bezirk Molenbeek in Brüssel: "Armut ist keine Entschuldigung für Radikalität"

Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek hat einen Ruf als Hochburg des Islamismus. Im Interview spricht die Bürgermeisterin von Molenbeek, Françoise Schepmans, über den Bezirk, Ghettobildung und Familiennachzug.

Frau Schepmans, nach den Anschlägen von Brüssel macht die Brüsseler Gemeinde Molenbeek wieder Schlagzeilen: Dort wurde der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge von Paris, Salah Abdeslam, gefasst – und der hatte wiederum Kontakt zu den Brüsseler Attentätern. Wie würden Sie Molenbeek als Ihre Gemeinde mit ein paar Worten beschreiben?
Molenbeek ist eine große Gemeinde mit fast 100.000 Einwohnern. Sie hat viele Gesichter, aber insgesamt wohnen hier einfache Leute. Das Problem besteht darin, dass es vor allem im Zentrum Molenbeeks keine große Mischung gibt – hier leben vor allem Muslime, die in erster Linie marokkanischer Herkunft sind.
Der französische Islamwissenschafter Gilles Kepel hat davon gesprochen, dass es in Molenbeek eine Unterwelt aus Kriminellen und Dschihadisten gebe, die Salah Abdeslam offenbar monatelang Unterschlupf bot. Hat er Recht?
Nein, von einer Unterwelt kann man nicht sprechen. Vielmehr ist es so, dass es sich bei den Personen rund um Salah Abdeslam um ein mafiöses Netzwerk handelte, dessen Mitglieder sich alle untereinander kannten. Die Radikalisierung hat sich bei ihnen extrem schnell vollzogen. Dabei haben sowohl die sozialen Netzwerke als auch der Terrorplaner Abdelhamid Abaaoud eine Rolle gespielt, der in diesem Milieu eine charismatische Rolle spielte und in Molenbeek aufwuchs.
Nach den Angaben des Kommunalpolitikers Jamal Ikazban wurden am Osterwochenende SMS mit islamistischem Inhalt an Jugendliche in Molenbeek verschickt, um sie für den Dschihad zu rekrutieren.
Weder die Polizei noch die Jugendbetreuer haben mir bestätigt, dass mehrere Propagandanachrichten per SMS an junge Menschen in Molenbeek verschickt wurden.
Ist Molenbeek jene Hochburg des Islamismus in Europa, als die sie immer wieder dargestellt wird?
Nein. Das Problem in Molenbeek liegt darin, dass die Menschen in einem Teil der Gemeinde seit Jahren nur unter sich geblieben sind. Leider hat man von ihnen nicht verlangt, Französisch zu lernen. Und weil es keine Mischung der Bevölkerung gibt, hat sich der Fundamentalismus hier leichter verbreiten können – zumal es keine zivilgesellschaftlichen Strukturen in der marokkanischstämmigen Bevölkerung vor Ort gibt, die dem etwas hätten entgegensetzen können. Hinzu kommt, dass sich die Art der Einwanderung in Molenbeek inzwischen verändert hat: Am Anfang, seit den Sechzigerjahren, sind die Menschen noch wegen der Arbeit gekommen. Inzwischen gilt Molenbeek für viele einfach nur deshalb als Ziel, weil das Leben hier vergleichsweise einfacher ist als in Marokko.
Wie konnte Molenbeek zu einem sozialen Brennpunkt werden?
Wir haben den Familiennachzug in zu großem Umfang zugelassen. Das hat dann dazu geführt, dass große Familien in viel zu kleinen Wohnungen unterkommen mussten. Der Mangel an Ausbildung und Arbeit haben ein Übriges getan.

Die Missstände in Molenbeek werden immer wieder auch ihrem sozialistischen Vorgänger Philippe Moureaux angelastet, der zwei Jahrzehnte lang Bürgermeister in Molenbeek war.

Ja, für ihn war Molenbeek ein soziales, multikulturelles Labor. Er vertrat die Auffassung, dass die Menschen in Molenbeek so leben sollten, wie sie wollten.

Was ist seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2012 anders geworden?

Ich habe mich um die Sicherheit gekümmert und Überwachungskameras installieren lassen. Ich habe verlangt, dass die Menschen in Molenbeek der Polizei mehr Respekt entgegenbringen. Mir geht es darum, dass die geltenden Regeln respektiert werden - von den Verkehrsregeln bis zu den Ladenöffnungszeiten. Darüber hinaus ist es jetzt nicht mehr möglich, dass Einfamilienhäuser baulich immer weiter unterteilt werden. So kann verhindert werden, dass eine Familie mit vielen Kindern in einer Mini-Wohnung zusammengepfercht wird.

Anders als viele französische Problem-Banlieues liegt Molenbeek mitten in der Stadt. Eine Chance für den Bezirk?

Ich glaube, dass Veränderungen bei uns leichter vorankommen werden, eben weil wir keine abgeschlossene Gemeinde sind. Wir sind zehn bis 15 Gehminuten vom zentralen Brüsseler Platz, dem Grand Place, entfernt.
Molenbeek hat eine Arbeitslosenquote von rund 30 Prozent. Liegt dort die Ursache, dass sich vor allem hier des Islamismus ausbreiten konnte?

Armut ist keine Entschuldigung für Radikalität. Und außerdem: Wenn wir uns die Biografien von Salah Abdeslam und Abdelhamid Abaaoud anschauen, dann stellen wir fest, dass wir es hier nicht mit Vertretern des Prekariats, sondern der Mittelschicht zu tun haben.
Nach den Anschlägen von Brüssel gibt es lautstarke Kritik am Vorgehen der belgischen Behörden. Gehört auch Brüsseler Verwaltungsstruktur auf den Prüfstand?

Unsere Probleme hängen nicht mit der Tatsache zusammen, dass es 19 Gemeinden in Brüssel gibt. Paris besteht ja auch aus 20 Arrondissements. Woran es mangelt, ist die die Zusammenarbeit der einzelnen Gemeinden.

Auch das Polizei- und Justizwesen in Belgien gilt als zersplittert.

Das ist allerdings ein Problem. Nach der Affäre um den Sexualstraftäter Marc Dutroux wurden die Gemeinde-Gendarmerie und die Gerichtspolizei in einem integrierten System zusammengefasst, das auf lokaler und auf Bundesebene funktioniert. Aber die Zusammenarbeit kann noch verbessert werden. Es hängt aber nicht alles von den Strukturen ab - sondern häufig auch von den Personen, die darin arbeiten.
Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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