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Prominente Rücktritte: Die neuen Teilzeitkräfte

Immer wieder Rücktritte. Gerüchteweise oder angekündigt, überfällig oder überflüssig. Laden Amtsträger, wie jetzt in Hamburg, kurzfristig die Presse ein, kann das ein Abschied sein. Kommt keiner mehr, um zu bleiben?

Von Caroline Fetscher

Wer träumt nicht mal vom Rücktritt, von Abschied, vom Alles-Hinschmeißen-und-Weglaufen? Mit Sicherheit tun das eine ganze Menge Menschen, so sie vor Problemen stehen. Nicht nur BP-Manager, wenn sie auf den ölverseuchten Golf von Mexiko gucken. Oder westliche Verteidigungsminister, die in afghanischen Gebirgen und Sandsackfestungen auf Truppenbesuch sind. Ohne Zweifel sinnierten auch griechische Kabinettsmitglieder, konfrontiert mit zornigen Massen und leeren Kassen, über mögliche Rücktritte. Neulich sind sogar zwei Amerikaner von ihrer Position als Adoptiveltern zurückgetreten. Der adoptierte Junge bereitete ihnen zu viel Verdruss, da schickten sie ihn zurück ins Heim. Vorbei war der Ärger, der Lärm im Haus.

Ja, ein Rücktritt löst viele Probleme, scheint es, jedenfalls für den, der sein Amt abgibt, die Tür hinter sich zuschlägt. Aber die Aufgabe selber bleibt, so wie das „schwierige Kind“ weiter am Leben ist. Die Probleme an sich sind nicht aus dem Weg geschafft, nur: Andere müssen sich jetzt darum kümmern. Zurücktreten, mitten in der Amtszeit einfach gehen, aus heiterem Himmel, das sei „unhanseatisch“, erklärte bereits pikiert die Grünen-Politikerin Krista Sager, angesichts des nicht dementierten und deshalb immer lauter gewordenen Gerüchts, Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust werde den Bettel hinschmeißen. Doch für Sagers Worte hatte auch Hamburgs parteilose Kultursenatorin Karin von Welck kein Ohr. Und so kündigte Ole von Beust am späten Sonntagnachmittag ihren Rücktritt zur ersten Bürgerschaftssitzung nach der Sommerpause gleich mit an.

Das tut man nicht, das gehört sich nicht, das ist nicht unsere Art?

Davon lässt sich der Zurücktretende der Gegenwart kaum noch beeindrucken. Und hierzulande treten sie zurück, in Scharen, seit Jahresfrist, als grassiere ansteckende Rücktritteritis. Den Reigen begann Oskar Lafontaine, er hatte gute Gründe, er war schwer erkrankt, und mit dem Zurücktreten hatte der Linke außerdem schon Übung von damals, als er das Kabinett Schröder Knall auf Fall verließ, um sich der Familie zu widmen. Wie er sagte. Es war in der Politik einiges nicht so gelaufen, wie er sich das wünschte.

„Ich bin dann mal weg“, heißt der offenbar sehr inspirierende Bestseller eines deutschen Komikers, der sich vom Job losmachte, um 600 Kilometer nach Santiago de Compostela zu laufen, als Pilger auf dem Jakobsweg. Den saloppen Titel scheinen einige Amtsträger und Volksvertreter im Ohr zu haben, wenn sie unvermutet und vor der Zeit ihren Abschied einreichen.

Gekränkt stellte sich Horst Köhler, Bundespräsident, vor die Öffentlichkeit und beklagte sich über Kritik an seinen Äußerungen zu Wirtschaftsinteressen und Bundeswehreinsätzen. Er argumentierte nicht, er trotzte: „Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung. Sie lässt den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen. Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten – mit sofortiger Wirkung. Ich danke den vielen Menschen in Deutschland, die mir Vertrauen entgegengebracht und meine Arbeit unterstützt haben. Ich bitte sie um Verständnis für meine Entscheidung. (…) Es war mir eine Ehre, Deutschland als Bundespräsident zu dienen.“ Habe die Ehre – und Schluss. Dass er den Respekt erst recht verliert, indem er diesem Amt den Rücken kehrt, hatte er offenbar nicht bedacht. Roland Koch fasste seine Motive großherziger zusammen und gab sich unkränkbar: „Politik ist ein faszinierender Teil meines Lebens, aber nicht mein Leben“, erklärte der Hesse der eilig zusammengetrommelten Presse, die Jahre als Ministerpräsident seien „eine spannende Zeit“ gewesen, die er „in all ihren Ausprägungen genossen“ habe. Jetzt wolle er mal richtig Geld verdienen - das sagte er nicht. Und war dann mal weg. Ohnehin finanziell abgesichert, vom Steuerzahler gut versorgt. Der sich umgekehrt aus diesen Gründen nicht so gut mittendrin verabschieden kann.

Daneben gab es die halbfreiwilligen und unfreiwilligen Rücktritte, zu letzteren gehörte der von Bischof Walter Mixa, dem man Kindesmisshandlung und Veruntreuung von Kirchengeldern nachgewiesen hatte. Gleich dreimal bat er die Gläubigen um Versöhnung und Verzeihung „für alles, was ich nicht recht gemacht habe“: „Ich will keineswegs verschweigen, dass mir nicht immer alle diese Vorsätze in der rechten Weise gelungen sind. Ich habe sicher auch viele Fehler gemacht, obwohl ich niemanden in irgendeiner Weise verletzen oder beschädigen wollte.“ Beschönigen wollte er nichts, er sei „in vieler Hinsicht schuldig geworden“. Wenig später besann sich der Bischof, er sei zum Rücktritt gedrängt worden, er plädierte nun für einen Rücktritt vom Rücktritt, bis ihn der oberste Hirte in die Realität zurückholte.

Dem erzwungenen Rücktritt à la Mixa geht meist ein kleines Watergate voraus, die Pauschalformel für solche Mixtur aus Skandal und folgerichtigem Amtsverzicht. Zur Dynamik des Mini-Watergate gehören Phasen, wie man sie vor Gericht von Angeklagten kennt, die eine wachsende Beweislast ans Eingeständnis bringt. Phase 1: Ich habe nichts getan … Ich kann mich nicht erinnern … Phase 2: Hab vielleicht doch mal was getan, aber nicht das, und das war damals eh üblich … Phase 3 und 4: Okay, das habe ich getan, aber nicht so heftig, na ja, da ist was Schlimmes passiert, also gut, ich war’s. Bis Phase 4 ist Bischof Mixa nicht vorgedrungen, andere haben das an seiner Stelle für ihn erledigt.

Weitaus ehrenhafter wirkt der freiwillige Rücktritt. Er kann zum Spektakel der Anständigkeit stilisiert werden, und Vorbild für Einsicht, Verzicht, Einkehr sein, wie im Fall der evangelischen Bischöfin Margot Käßmann, die alkoholisiert über eine rote Ampel fuhr: „Ich will nicht darüber hinwegsehen, dass das Amt und meine Autorität als Landesbischöfin sowie als Ratsvorsitzende beschädigt sind“, erklärte sie. „Es tut mir leid, dass ich viele enttäusche, die mich gebeten haben, im Amt zu bleiben.“ Aber sie konnte nicht anders, sie musste dann mal weg.

Ihrer Kollegin, der Bischöfin Maria Jepsen, erging es vor wenigen Tagen ebenso. „Gedächtnislücken“ in einem Missbrauchsfall vor Jahren ließen ihrem Gewissen keine Ruhe: „Ich habe mein Bischofsamt angetreten mit dem mir aus Kindertagen vertrauten Psalmwort ,Siehe, wie fein und lieblich es ist, wenn Geschwister einträchtig beieinander wohnen!’“, erklärte Jepsen. Doch „fein und lieblich“ sei „augenblicklich fast gar nichts“ in ihrem Amt. „Meine Glaubwürdigkeit wird angezweifelt“, sagte sie – das klang ein wenig nach Köhler. Und schwups, war sie dann mal weg.

Wann immer dieser Tage ein Politiker oder Kleriker kurzfristig eine Pressekonferenz anberaumt, herrscht nicht etwa Spannung, ob er oder sie etwas Neues vorschlagen wird, einen ethischen Appell richten möchte oder wenigstens eine Ruck-Rede halten will. Nein, es setzt das Raunen um seinen möglichen Rücktritt ein. Damit rückt derjenige, ganz gegen seine erklärte Absicht, zunächst in den Mittelpunkt. Er will „endlich mal weg sein“, und ist, vom eigenen Gongschlag begleitet, vor allem erst mal wieder da. Nur in Fällen wie dem von Jürgen Rüttgers sieht es etwas anders aus, der kleinlaute Rücktritt von einem, den Sponsoring-Affären gebeutelt haben, der in Nordrhein-Westfalen zwölf Prozentpunkte bei der Wahl verlor – das ist der solide, normale Rücktritt von eh und je. Er gehört zum Ritual dessen, der sich, wie früher üblich, hinstellte und kundtat: „Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Meist konnte man damit sogar einfach auf dem Sessel sitzen bleiben, und bald war die Causa vergessen.

Das traditionelle, feudale Gegenteil vom Rücktritt hieß König oder Kaiser. Wer qua Geburt „Landesvater“ ist, der tritt nicht zurück, er geht erst, wenn die Bastille brennt, die Bevölkerung sich erhebt. Das moderne Gegenteil vom Rücktritt hieß Helmut Kohl. Kohl blieb und blieb, so dass beim Wahlvolk kollektive Erinnerung an Feudalepochen wach wurde, und es war, als könnte man nicht anders, als müsse man ihn eben wählen. Weil er nun mal da war, da ist und da sein wird. Allenthalben gilt die Annahme, Angela Merkel habe von ihm das schlichte Handwerk des Aussitzens erlernt. In den typischen Alltagskonversationen dieser verunsicherten Tage ist oft zu hören: „Aber Merkel nicht! Die? Niemals, die tritt nicht zurück.“ Gern folgt der Zusatz: „Dann schon eher der Westerwelle.“ So viele Rücktritte, ob aus Kalkül, Einsicht, Flucht oder Vertreibung, beleben die politische Fantasie, und Rufe nach Rücktritten werden immer häufiger laut. Sogar aus der FDP selber, in der es nach Umfrage-Debakeln solche Forderungen an den eigenen Vorsitzenden und Außenminister gab.

So seltsam das Geschehen wirkt, so komisch oder tragisch es sich im einzelnen Fall ausnehmen kann, eine besorgniserregende Tendenz, Verantwortung und Dienstpflicht – wie bei Koch oder Köhler – über Bord zu werfen, scheint auch im Spiel zu sein. Vom flexiblen Menschen der spätkapitalistischen Postmoderne wird erwartet, dass er bereit ist zu lebenslangem Lernen, dazu, sich immer wieder „neu zu erfinden“. In dieser Forderung konvergieren konservative und progressive Ideale. Bei den Konservativen bedeutet das die Anpassung an die Rasanz des Arbeitsmarkts, bei den Progressiven die Ablehnung fixierter Traditionen und Festschreibungen eines Individuums. Irgendetwas allerdings läuft schief, wo in beiden Positionen Beliebigkeit und Willkür zu regieren beginnen, anstatt Verantwortung, Kritikfähigkeit, Diskursfreude. Wir sind dann mal weg? Das ist kein Weg.

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