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Protest in Brasilien gegen die FIFA: Rebellion statt Fußball

Steine, Tränengas und grenzenlose Wut - der Confed-Cup in Brasilien wird zur Bühne des Massenprotests. Doch neben diesen stürmischen Szenen hat der Protest auch ganz stille und humorvolle Seiten.

Rio de Janeiro brennt. Mülleimer, Barrikaden aus Holz und Abfall, Autos, Bäume, Bushaltestellen und Radargeräte stehen in Flammen. Schwarzer Rauch weht durch die Straßen und vermischt sich mit Schwaden von Tränengas. Der Verkehr ist zusammengebrochen, aber überall sind junge Leute unterwegs. Aufgewühlte junge Menschen. Viele halten sich mit Essig getränkte Tücher übers Gesicht, um das Brennen des Tränengases zu lindern, manche tragen Malermasken. Andere schließen sich spontan zusammen, um leere Gaspatronen sowie die kleinen gelben Gummigeschosse aufzusammeln, die den Boden bedecken. Es geht in diesen Tagen ein Märchen zu Ende. Das Märchen vom unpolitischen Fußball.

„Alles ist politisch, auch der Kaffee und erst recht der Fußball“, hat der uruguayische Schriftsteller und Fußballfan Eduardo Galeano mal gesagt. Ist es der Fußball, der Brasilien in diesen Tagen verändert? Das Turnier um den Confed-Cup, für das Brasilien so unfassbar viel Geld ausgibt, um sich der Welt als moderne Nation zu präsentieren? Seit einer Woche läuft das Fußballturnier, und mit jedem Tag hat sich das Land ein Stückchen verändert. Das Volk nutzt den Fußball als politisches Element und den Confed-Cup als Bühne für sein Aufbegehren. Die brasilianische Regierung hat die große Bühne gewollt und muss nun machtlos mit ansehen, wie andere hinaufklettern, wie sie die staatlichen Souffleure wegschubsen und ihr eigenes Stück zur Vorführung bringen. Gerüchte schwirren durch die tränengasgeschwängerte Luft. Wird der Confed-Cup abgesagt? Ist dann überhaupt noch die für 2014 geplante Weltmeisterschaft denkbar? „Es gibt keine derartigen Pläne“, sagt ein Sprecher des Weltverbandes Fifa. Und: „Bisher ist keine Mannschaft an uns herangetreten mit dem Wunsch, dieses Turnier zu verlassen.“

In hunderten Städten des Landes ziehen die Menschen am Donnerstagabend auf die Straßen. Sie sind stolze Brasilianer, aber sie wollen ein anderes Brasilien, ein gerechteres Brasilien, ein Brasilien ohne Korruption, aber mit besseren öffentlichen Krankenhäusern, Schulen und Transportnetzen. Und mit einer Polizei, die die Bevölkerung nicht mehr als Feind betrachtet. Ein Sturm fegt über das fünftgrößte Land der Erde, und er wird weiterfegen, auch dann, wenn die Fußballkarawane längst weitergezogen ist und ihre Paläste zurücklässt, errichtet mit brasilianischem Geld, das anderswo fehlt. In den Krankenhäusern, den Schulen, den Favelas. Am Maracana-Stadion, einem dieser mit Milliardenaufwand hergerichteten Paläste, die das Volk nicht so ganz dringend braucht, ist Polizei aufgezogen. Gerade hat der Weltmeister Spanien vor 75000 Zuschauern das kleine Tahiti mit 10:0 besiegt. Doch das Publikum feiert nicht etwa die Fußballmillionäre aus Spanien, sondern die Spieler ohne Namen aus Ozeanien, eine Truppe aus Taxifahrern und Strandverkäufern. Mit ihnen kann man sich in diesen Tagen besser identifizieren.

Die Straßen sind gesperrt, nur in der U-Bahn geht es vorwärts

Vicente del Bosque, der große und massige Trainer der Spanier, wird gefragt, was er denn halte von den Demonstrationen und ob er sich nicht bitte dazu äußern wolle. Del Bosque ist groß geworden im Spanien des Generalissimo Franco, er kennt die Zeichen des Umbruchs, aber damals war es eine andere Zeit, Freiheit gegen Diktatur. Und das hier? Del Bosque verzieht das Gesicht und sagt, dass er nur über Sport sprechen wolle, „von dem anderen verstehe ich zu wenig, ich kann nicht beurteilen, wie die sozialen Probleme hier sind und welche Ursachen sie haben“. Kurze Pause. „Aber wir haben schon bemerkt, dass es hier ein kleines Transportproblem gibt.“ Auch Vicente del Bosque und seine Nationalspieler haben sich im Bus durch den Verkehr gequält und mit angeschaut, was sich da zusammenbraut in Rio.

Schon ein paar Meter vor dem Stadion regiert der neue, der ungewohnte Alltag. Polizisten riegeln den Weg zur Metro ab. Sie haben ihre Helme aufgesetzt, sie schauen jedem Einzelnen ins Gesicht und prüfen, ob er denn gefährlich werden könnte in dieser Nacht, und erst dann geben sie den Weg frei, der auf die Brücke zur Metro führt. Und damit ins Stadtzentrum, wo der Protest regiert, immer lauter und ungestümer. Die Züge Richtung Stadtzentrum sind so vollgestopft wie sonst nur zur Rushhour. Denn draußen geht nichts mehr. Die Polizei hat die Straßen weiträumig abgesperrt, nur im Untergrund geht es noch vorwärts. Im Schneckentempo, mit Unterbrechungen alle paar Minuten. Drinnen warten sie gespannt auf die Durchsagen des Zugführers. Ist das nur eine der üblichen Betriebsstörungen, logische Folge der seit Jahren ausbleibenden Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr? Oder ist jetzt wirklich Revolution mit allem Drum und Dran? Da knistern die Lautsprecher. „Bleiben Sie bitte ruhig!“, ruft der Zugführer und dass es gleich weitergehen würde, aber es gebe da nun mal ein kleines Problem weiter oben. Allgemeines Gejohle. Touristen in Fußballtrikots sehen sich fragend an. Ein kleines Mädchen weint. Dann ruckelt der Zug, und es geht weiter. Anders als sonst um diese Zeit wollen die meisten nicht weiter nach Ipanema oder Copacabana, zu Caipirinha und Party. Ein Großteil der Prozession steigt schon im Zentrum aus, an der Station Presidente Varga. Ab zur Demo! Draußen breiten sie eine Brasilienfahne aus, geschmückt mit dem berühmten Spruch „Ordem e Progresso“. Ordnung und Fortschritt. Eine junge schwarze Frau steht davor und schreit: „Ihr könnt uns töten, aber ihr könnt nicht unsere Ideale umbringen!“

Fotografen mit Helmen rennen herbei, sie wissen gar nicht mehr, was sie noch fotografieren sollen. Da schießen hinter ihnen plötzlich die schwarzen Pick-up-Trucks von Rios paramilitärischer Eliteeinheit Bope vorbei, auf deren Türen ein grinsender Totenkopf mit gekreuzten Pistolen prangt. Die maskierten Polizisten auf den Ladeflächen haben die Finger am Abdruck ihrer Maschinenpistolen und Schrotflinten. Sie werden von den Scheinwerferkegeln der drei, vier Hubschrauber am Himmel verfolgt, aus denen das Fernsehen live in Brasiliens Wohnzimmer berichtet. Es ist das Ende eines der größten Demonstrationsmärsche, den Rio de Janeiro jemals erlebt hat: Von 300000 Menschen sprechen selbst konservative Medien. In der Hauptstadt Brasilia versuchen Demonstranten, das Außenministerium zu stürmen; im südlichen, eher gemäßigten Porto Alegre wird geplündert; in Belem nahe der Amazonasmündung decken Protestierer das Rathaus mit einem Steinhagel ein; in Salvador do Bahia werden ein Hotel und ein Bus des Fußballweltverbandes Fifa attackiert; in Ribeirao Preto im Innern des Bundesstaats São Paulo überrollt ein Autofahrer zwölf Demonstranten, einer von ihnen stirbt. Noch am Abend ruft Präsidentin Dilma Rousseff ihr Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Die Politik erscheint in diesem Moment des Aufruhrs völlig hilf- und ratlos.

„Brasilien ist heute die siebtgrößte Wirtschaftsnation der Welt“, sagt die Präsidentin, als ob das eine Antwort auf die Proteste wäre. Anders als beim Marsch am Montag strömen dieses Mal nicht nur Studenten und junge Menschen zusammen. Familien mit Kindern sind in der Menge, Senioren und Werktätige. Sie alle haben sich vom Erfolg der Massendemonstrationen im Land anstecken lassen, nach denen viele brasilianische Stadtverwaltungen die umstrittene Preiserhöhung für Busfahrtickets wieder zurückgenommen haben. An ihnen hatten sich Proteste vor rund zwei Wochen in São Paulo entzündet und ins ganze Land ausgebreitet. Auch Rios Bürgermeister Eduardo Paes sagte Mitte der Woche die Fahrpreiserhöhung wieder ab. Es ist ein verzweifelter und vergeblicher Versuch zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Eduardo Paes ist Teil der politischen Elite, die bis heute nicht verstanden hat, dass die 20 zusätzlichen Centavos für ein Busticket nur der Auslöser der Revolte waren und nicht seine Ursache. Weder Paes noch irgendein anderer Regierender hat es bisher fertiggebracht, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden. Auf der Demo in Rio hält eine Frau ein Plakat in die Höhe: „Und jetzt gebt uns die restlichen Milliarden wieder!“

In Copacabana starren sie auf die Fernseher, fassungslos

Tausende haben solche selbstgemalten Pappschilder dabei. „In Brasilien läuft so viel falsch, dass es hier nicht drauf passt“, steht auf einem. Ein anderes sagt: „Entschuldigt, Politiker: Wir sind das Virus, das euer System kreiert hat.“ Und noch eins bringt die Stimmung auf den Punkt: „Brasilien gehört uns!“ Am Kopf des Protestzugs knattert die blau-weiß gestreifte Fahne der Sambaschule Villa Isabel im Wind. Sie hat den Wettbewerb im Karneval von Rio gewonnen. Auch heute ist die Stimmung zunächst fröhlich, ausgelassen. Die Demonstranten singen den Refrain der brasilianischen Nationalhymne, und immer wieder rufen sie: „Ohne Gewalt, ohne Gewalt.“ Doch im Zug sieht man auch nervöse junge Männer, die sich mit ihren T-Shirts die Gesichter vermummen und offenbar auf Randale aus sind. Einer von ihnen sagt: „Ich komme aus einer Favela weit draußen. Ich bin kein Dealer, ich arbeite in einer Apotheke. Ich brauche wegen der beschissenen Busse Stunden, bis ich bei der Arbeit bin. Und am Abend kommen die Bullen in unsere Favela und ballern herum. Ich habe es denen heimgezahlt.“

Als der kilometerlange Zug nach zwei Stunden das abgeriegelte Rathaus erreicht, wird er von sogenannten Schocktruppen der Militärpolizei empfangen. Es ist nicht auszumachen, wer anfängt. Ob zuerst ein Feuerwerkskörper aus der Menge auf die Polizisten fliegt. Oder ob die schlecht ausgebildeten und schlecht bezahlten Polizisten, die es in Brasilien so gut wie nie mit Demonstrationen zu tun haben, sofort Tränengas abfeuern. Auf dem Rückzug wird die Avenida Presidente Vargas in voller Länge verwüstet. Dutzende Laternen-, Radar-, und Kameramasten werden umgeknickt. Fensterscheiben zersplittern, Bushaltestellen werden zerlegt. Die Demonstranten, die die Gewalt verhindern wollen, haben keine Chance. Die Mehrheit ist ohnehin bereits geflüchtet. Vor den Feuern stehen Gruppen und skandieren „Wir kommen jeden Tag wieder, wenn sich nichts ändert. Brasilien Weltmacht? Am Arsch!“

Auch in Lapa, dem Ausgehviertel Rios mit unzähligen Kneipen, Diskos und Bühnen, brennt es. Als eine schwer gesicherte Hundertschaft der Polizei eine Gruppe Demonstranten verfolgt und mit Tränengas beschießt, brüllen die Augenzeugen aus den Bars und von den Balkons: „Die Polizei ist die Schande Brasiliens!“ Und sie beschimpfen den Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, der die Sicherheitsorgane befehligt: „Sergio Cabral, fick dich!“ Bevor die Kneipiers panisch die Rollläden herunterlassen, singt die wütende Menge: „Es wird keine Weltmeisterschaft geben.“ Im Innern der Kneipen geht der Gesang minutenlang weiter. Ein paar Kilometer weiter im Süden der cidade maravilhosa, der wunderbaren Stadt, wie sich Rio gern nennt. In Copacabana stehen sie an den Strandbars und Kneipen und starren auf die Fernseher, die hier immer laufen und im Normalfall Fußball zeigen würden. Schwarzer Rauch verdunkelt die Szenerie auf dem Bildschirm, dicht und bedrohlich. „Wo ist das?“, ruft einer aus der Menge. „In São Paulo“, antwortet die Frau hinter der Theke, sie interessiert sich sonst nicht weiter für die Wünsche ihrer Gäste, denn im Augenblick gibt es Wichtigeres als Bier oder Caipirinha oder Cachaça, den sonst allgegenwärtigen Zuckerrohrschnaps.

Brasilien wähnt sich vor einer Revolution, und Copacabana möchte mittendrin sein und nicht nur dabei. Es ist keine abgehobene Partygesellschaft, die hier feiert, und auch nicht das höhere Publikum, das trinkt ihre Cocktails ein paar Kilometer weiter in Ipanema oder Leblon. In Copacabana trifft sich das Volk, und das Volk ist sich einig in seiner Meinung: Endlich passiert mal was! Ein Anwalt, er hat sich mit einem Freund zum Feierabendbier verabredet, kommt gerade aus dem Zentrum. Der Anwalt zieht sein Smartphone aus der Jackentasche und zeigt ein Video, dass er vor einer halben Stunde aufgenommen hat. Beeindruckender noch als die Bilder sind die sie untermalenden Geräusche. Atemlose Stille in Copacabana. Ist das wirklich bei uns? Das schönste Bild dieser Nacht von Rio findet sich am Gitter vor dem Hauptbahnhof. Zwischen den Eisenstäben stecken Tausende der bunten und kreativen Schilder, mit denen die Demonstranten zuvor durch die Stadt gezogen waren. Es ist die brasilianische Klagemauer. Auf einem rosafarbenen Zettel steht: Bitte lächeln – Sie werden gerade beraubt.

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