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Beamte bauen in Tel Aviv die letzten Zelte der Sozialprotestler ab – die ihre Ziele nicht erreichten.

© dpa

Proteste in Israel: Benjamin Netanjahu scheitert bei Sozialreformen

Benjamin Netanjahu ist im Kabinett mit seinen Reformvorschlägen zur Sozialpolitik gescheitert. Schon drohen Gewerkschaften mit den nächsten Protesten.

So viel steht fest: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat eine der peinlichsten Niederlagen seiner bisherigen Amtszeit einstecken müssen. Die von ihm angestrebte Kehrtwende in der israelischen Gesellschaftspolitik findet – zumindest vorerst – nicht statt. Netanjahu hat in der Regierung keine Mehrheit für die Reformvorschläge der von ihm eingesetzten Trajtenberg-Expertenkommission gefunden. Weil der Druck auf den Regierungschef täglich zunimmt, sprechen Politiker und Kommentatoren bereits offen über vorzeitige Neuwahlen.

Der Ministerpräsident hat sich in seiner eigenen Regierung nicht durchsetzen können und musste kräftig zurückrudern. Vor gut einer Woche hatte die Expertenkommission die Vorschläge Netanjahu unterbreitet. Vorgesehen waren der Bau von Hunderttausenden neuen Wohnungen und Verbesserungen im Bildungsbereich. Noch vor wenigen Tagen hatte Netanjahu die Absicht verkündet, dass die Regierung die Empfehlungen der nach ihrem Vorsitzenden benannten Kommission für die Gesellschaftsreform Anfang dieser Woche verabschieden werde. Am vergangenen Sonntag verkündete er dann aber: Es wird im Kabinett nur diskutiert, nicht abgestimmt.

Bei der Sitzungseröffnung am Montagmorgen gab er sich dann doch entschlossen: Es sollte eine Debatte und eine Abstimmung geben. Am Mittag forderte er die Ministerrunde auf, alle Termine abzusagen und bis zur Abstimmung weiter zu debattieren. Am späten Abend aber brach er dann die Debatte ab – zur Abstimmung war es nicht gekommen.

Er sei umgefallen, attestierten ihm seine zahllosen Kritiker, er habe die in seinem Amt notwendige Durchschlagskraft vermissen lassen, es fehle ihm an Führungsqualitäten. Tatsächlich aber hatte Netanjahu schlicht im Vorfeld „seine Hausaufgaben nicht gemacht“ und deshalb erst im letzten Augenblick eingesehen, dass er in seiner Mammut-Regierung nicht über die notwendige Mehrheit für die Verabschiedung der Gesellschaftsreform verfügte. Und das deshalb, weil nicht nur alle Minister der drei wichtigsten Koalitionspartner mit Nein zu stimmen drohten, sondern auch drei der populärsten Minister seiner eigenen Likud-Partei.

Die Regierung wird nun eine möglicherweise über mehrere Kabinettssitzungen sich ausdehnende Grundsatzdebatte über die Trajtenberg-Empfehlungen abhalten. Das verlangen nicht nur die opponierenden Minister. Am Ende dieser Debatte sollte eine neue nationale Prioritätenliste im wirtschaftlichen und sozialen Bereich stehen. Weil etliche Minister, vor allem der ultrareligiösen Shas-Partei, der Meinung sind, ihre ärmere Wählerklientel sei von Trajtenberg und seinen Professoren zu wenig berücksichtigt worden, steht Netanjahu ein hartes Stück Überzeugungsarbeit bevor.

Lesen Sie weiter auf Seite 2: Eigentlich hätte es ein historisches Ereignis für Israels Gesellschaft werden sollen.

Eigentlich hätte der Montag ein fast historischer Tag in der israelischen Gesellschaft werden sollen. Denn während die Regierung in Jerusalem die Reformen diskutierte, räumte die Polizei in Tel Aviv und den Vorstädten die letzten Zelte der Protestler. Es waren diejenigen der Familien ohne Wohnsitz. Seinerzeit hatten Studenten und die sozial abstürzende Mittelschicht mit ihren Zeltstädten und landesweiten Massenprotesten Hunderttausender Netanjahu veranlasst, die Trajtenberg-Kommission einzusetzen. Diese hat allerdings in ihren Empfehlungen zwar die Proteste gegen die überhöhten Lebenshaltungskosten berücksichtigt, nicht aber die Forderungen nach bezahlbaren Wohnungspreisen und -mieten. Deshalb lehnt die Führung der Protestbewegung die Ergebnisse der Kommission grundsätzlich ab. Aber auch in vielen Details vertreten die Demonstranten weitergehende Forderungen.

Die ursprünglichen Protestierer, die sich im ersten erfolgreichen Konsumentenboykott per Internet zuerst gegen die hohen Milchproduktpreise gewandt hatten, konnten dagegen jetzt triumphieren: Die drei großen Produzenten von Milchprodukten nahmen massive Preiskürzungen vor. Allerdings drohen ihnen immer noch neue Boykotte, falls sie nicht allen Forderungen nachgeben.

Ebenfalls am Montag forderte das Landesarbeitsgericht 730 Assistenzärzte auf, zwei weitere Tage mit dem Finanz- und Gesundheitsministerium zu verhandeln. Sie hatten gedroht, am Dienstag, nach Ablauf der dreißigtägigen Kündigungsfrist, gemeinsam zurückzutreten. Die nun bis Donnerstag, hinausgeschobene Massendemission könnte ein unvorstellbares Chaos in den öffentlichen Krankenhäusern zur Folge haben: Zahllose Abteilungen müssten geschlossen und in fast allen anderen die medizinische Versorgung auf ein absolutes Minimum beschränkt werden.

Netanjahu, formell auch Gesundheitsminister, hat sich bisher allen Aufrufen der Ärzte verweigert, in die Tarifverhandlungen einzugreifen. Die Assistenzärzte fühlen sich von der Ärztevereinigung in den Verhandlungen über den neuen Kollektivvertrag übergangen und fordern einen „Stundenlohn wie die Putzfrauen“. Mit anderen Worten: Anstatt wie bisher 4 Euro künftig 10 Euro.

Am Dienstagmorgen reihte sich schließlich auch Ofer Eini, mächtiger Boss der Histradrut-Gewerkschaft, in die vorderste Frontlinie der sozialen Kämpfe ein und damit auch in die gegen die Regierung: Er drohte mit einem Generalstreik in zwei Wochen. Eini fordert die Abschaffung der Zeitarbeitsunternehmen, deren Arbeitskräfte zu Dumpinglöhnen ohne soziale Rechte schuften.

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