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Proteste in Syrien: "Wenn wir jetzt aufgeben, wird die Rache fürchterlich"

Der syrische Filmemacher und Demokratieaktivist Ali Atassi über kreative Formen des Widerstandes, die Rolle der Medien und die deutsche Linke.

Der Aufstand in Syrien wird brutal niedergeworfen. Gibt es dennoch den Einsatz von Humor, Kunst und Satire?

Eine große kreative Welle hat das Land erfasst. Die gesamte Folklore ist neu erfunden als Akt des Widerstandes. Die Demonstranten singen Volkslieder, deren Texte verändert wurden und nun regimekritische Parolen enthalten. Bei vielen Demonstrationen tanzen die Menschen eine Art Dabka. Selbst bei Beerdigungen tanzen und singen die Menschen. Damit zeigen sie sich selbst und dem Regime, dass sie keine Märtyrerkultur entwickeln wollen, selbst wenn das Regime sein Volk tötet. In den Städten gibt es Happenings. Viele öffentliche Plätze in Damaskus und Aleppo haben Springbrunnen. Künstler schütten immer wieder rote Farbe in die Brunnen, die das Wasser färben als Hommage an die Toten und um das Blutbad anzuprangern. Das Regime hat schließlich das Wasser abgestellt.

Das Regime fürchtet die Künstler: Der populäre Volkssänger Ibrahim Kashush aus Hama wurde im Sommer ermordet, nachdem er ein bekanntes syrisches Volkslied mit den Zeilen „Los, Baschar, hau ab“ unterlegt und bei Demonstrationen gesungen hat. Seine Mörder hatten ihm sogar die Stimmbänder herausgeschnitten.

Aber die Syrer stellen immer wieder Lautsprecher auf öffentlichen Plätzen und Dächern auf, aus denen das Lied erschallt. Nach fünf bis zehn Minuten erscheint der Geheimdienst und sucht den versteckten Lautsprecher. Damit beweisen die Syrer, dass Kashushs Stimme lebendig bleibt.

Syrien ist die erste Arabische Revolution ohne Weltpresse. Was bedeutet das?
Das ist ein wichtiger Unterschied zu den anderen Revolutionen. Auf dem Tahrir- Platz oder auf der Avenue Bourgiba liefen die Fernsehkameras der Welt 24 Stunden am Tag, und man konnte nonstop verfolgen, was passierte. Nach drei Wochen war der Staatschef gestürzt. Das wurde der Ideal-Typ der Arabischen Revolution. Das Regime hat das verstanden und von Beginn an verhindert, dass die Menschen die großen Plätze besetzen können, und es lässt keine ausländischen Journalisten ins Land. Zwar machen die Syrer ihre Reportagen selbst und Youtube spielt eine viel größere Rolle in der syrischen Revolution als in den anderen. Das Problem: Politiker und westliches Publikum trauen den Bildern nicht. Das ist ein großes Hindernis. Der europäische und amerikanische Fernsehzuschauer ist daran gewöhnt, dass ihm sein Landsmann in seiner Sprache von den Ereignissen berichtet.

Ihr Vater Nureddin war von 1966 bis 1970 Präsident Syriens, bis er sich mit Hafez al Assad überwarf und den Rest seines Lebens im Gefängnis verbrachte. Wie hat Sie das geprägt?
Die Diktatur war Teil meines Lebens. 22 Jahre lang habe ich alle 14 Tage meinen Vater im Gefängnis besucht. Andere Familien haben mehr gelitten, weil ihre Angehörigen verschwunden sind. Es gab keine Aufarbeitung, In Hama, wo 1982 Zehntausende getötet wurden, war nicht einmal Trauer möglich. Das bleiben offene Wunden. Das Schlimmste daran ist: Das syrische Regime ist seit mehr als 45 Jahren an der Macht – das ist länger als in Osteuropa oder Südamerika. Das Leben von Generationen wurde zerstört. Und das dauert an.

"Unsere Revolution ist nicht so sexy"

Erklärt sich aus diesen offenen Wunden auch die Entschlossenheit der Syrer, ihre Proteste fortzusetzen?
Sie rührt sicher daher, dass die Syrer wissen: Wenn sie jetzt aufgeben, wird die Rache fürchterlich. Es gibt keine Wahl mehr, keine Möglichkeit der Umkehr.

Aber es gibt ganze Bevölkerungsschichten, die bisher noch zuschauen.
Viele Menschen haben Angst. Die Chancen, getötet zu werden, sind ungleich höher als in Ägypten und Tunesien. Das ist kein Spiel, kein Happening. Dennoch werden die Proteste stärker und breiten sich geografisch aus. Die Vororte von Damaskus machen alle mit – aber das Regime hat die Stadtzentren abgeriegelt.

Baschar al Assad sprich von einer ausländischen Verschwörung, das kommt bei Teilen der westlichen Linken gut an.

Ich bin zutiefst schockiert, dass Teile der Partei Die Linke diesen Diskurs glauben. Dass sie sich nicht schämen, das Szenario des Regimes mitzumachen, nur weil dieses anti-amerikanisch ist. Dabei fehlt es an wirklichem Druck auf Verantwortliche und Geschäftsleute, denen die Welt klarmachen muss: Baschar ist am Ende. Siemens hat eng mit dessen Cousin Rami Makhlouf im Telefonsektor zusammengearbeitet. Diese Unternehmen wissen besser als ich, welche Geschäftsleute bis heute das Regime stützen.
Wie geht es weiter?
Ich fürchte, es ist ein Abnutzungskrieg. Wer gibt zuerst auf aus Erschöpfung? Ich denke, dass die Opposition nicht aufgeben wird, nachdem sie so viele Tote zu beklagen hat. Ich fürchte, dass es in nächster Zeit massive Vergeltung vonseiten des Regimes geben wird mit regelrechten Massakern. Unsere Revolution ist nicht so sexy.

Der Syrer Ali Atassi (44) lebt derzeit in Beirut. Sein Vater war Ende der 60er Jahre Staatspräsident Syriens, bis er sich mit Hafez al Assad überwarf.

Mit ihm sprach Andrea Nüsse.

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