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Sicherheitskräfte setzen Tränengas und Pfefferspray gegen Demonstranten ein, hier am Samstag in Raleigh/North Carolina.

© Jonathan Drake/REUTERS

Proteste und Gewalt in den USA: Amerika droht an seinen Krisen zu ersticken

Die Vereinigten Staaten leiden – und das aus so vielen verschiedenen Gründen. Doch eine Atempause ist nicht in Sicht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Juliane Schäuble

Enough. Nur dieses eine Wort hat Joe Biden am Freitag getwittert: Es reicht. Mehr nicht. Und doch hat ihn jeder verstanden. Es muss aufhören – mehr ist nicht mehr zu ertragen. „I can’t breathe.“ Ich kann nicht atmen – das waren die letzten Worte des Afroamerikaners George Floyd am Montag, bevor er, niedergedrückt von einem weißen Polizisten, das Bewusstsein verlor, um nie mehr aufzuwachen.

Hört auf, kommt zur Besinnung, hört einander zu, möchte man einem ganzen Land zurufen, das gerade an seinen Problemen zu ersticken droht.

Aber es hört nicht auf. Eine Atempause gibt es nicht. Amerika leidet, und das aus so vielen verschiedenen Gründen, dass einem schwindlig werden kann. Und es ist niemand in Sicht, der als Retter infrage käme.

Auch nicht Joe Biden, der zwar in seinem Präsidentschaftswahlkampf davon spricht, das Land zu heilen, aber selbst nach einem Wahlsieg im November wohl kaum die Kraft finden wird, alle Probleme so zu lösen, dass aus den gespaltenen Staaten von Amerika wieder ein vereintes Land wird. Zu viel hat sich aufgestaut, zu viel ist schiefgelaufen, als dass eine Blitzheilung wahrscheinlich wäre.

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George Floyds letzte Worte sind zum Schlachtruf einer Protestbewegung geworden, wie sie Amerika seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Die Wut und der Schmerz des schwarzen Amerikas sind nicht neu.

George Floyd ist einer von vielen

Auch wenn das erbarmungslose Vorgehen der Polizisten gegen Floyd in Minneapolis, das dank mutiger Passanten für alle sichtbar dokumentiert wurde, besonders erschüttert: Floyd ist nur der jüngste Fall in einer nicht abreißenden Folge von Afroamerikanern, denen ihre Hautfarbe zum Verhängnis wird. Und er wird nicht der letzte sein.

Ein Aufstand ist die Sprache der Ungehörten. Martin Luther Kings Worte werden in diesen Tagen des Aufruhrs häufig zitiert. Und es ist ja so: Wer nicht laut wird, läuft Gefahr, überhört und ignoriert zu werden.

Mehr zum Tod des Afroamerikaners George Floyd:

„Black Lives Matter“ („das Leben Schwarzer zählt“): Frustriert fragen die Demonstranten, warum sie das immer wieder neu betonen müssen. Wo doch nicht erst die Coronavirus-Pandemie mit inzwischen schon mehr als 100.000 Toten und über 40 Millionen Arbeitslosen zeigt, wie ungerecht es in diesem Land oft zugeht, wie viel schwerer Minderheiten von solchen Krisen betroffen sind.

Die Wut richtet sich vor allem gegen Trump - aber Rassismus hat er nicht erfunden

Die Wut richtet sich gerade vor allem auch gegen den Mann im Weißen Haus, an dessen Zaun gerüttelt wird. US-Präsident Donald Trump personifiziert für viele der Demonstranten all das, was schief läuft, was verhasst ist. Er sieht, er hört das - und setzt jetzt womöglich voll auf „Law and Order“, auf ein hartes Durchgreifen, was die Fronten weiter verhärten könnte.

Auch in der Nähe des Weißen Hauses kam es am Samstagabend zu Protesten.
Auch in der Nähe des Weißen Hauses kam es am Samstagabend zu Protesten.

© REUTERS/Jonathan Ernst

Aber rassistische Polizeigewalt hat er nicht erfunden oder wiedererweckt, auch wenn er sie womöglich befeuert. Auch nach der Wahl des ersten afroamerikanischen Präsidenten Barack Obama, als das Land glaubte, nun endlich die alten Wunden heilen zu können, starben Schwarze durch Polizeikugeln. Auch sie sind gemeint, wenn die Demonstranten rufen: „Keine weiteren Namen mehr“.

Und wer sich die Proteste genau anschaut, die auf immer mehr Städte übergreifen, sieht, dass da bei weitem nicht nur Schwarze protestieren. Unter den – überwiegend jungen – Demonstranten sind auch viele Weiße, die nicht nur aus Solidarität, sondern auch aus dem Gefühl eigener Frustration mitlaufen. Und manche von ihnen befördern das Chaos.

Amerika zweifelt an seinem eigenen großen Traum

Die USA im Jahr 2020, drei Jahre nach dem Amtsantritt des Polarizer-in-Chief, zwölf Jahre nach den Verwerfungen der Finanzkrise, sind ein zutiefst gespaltenes Land, das zunehmend an seinem eigenen großen Traum zweifelt: dass alles erreichbar ist, wenn man nur hart genug dafür arbeitet. Die Pandemie befeuert diese Zweifel, da sie gerade auch die Zukunftspläne vieler junger Menschen durchkreuzt.

Von einem „failing state“ ist angesichts des zeitweilig überforderten Gesundheitswesen und der horrenden Arbeitslosenquote schon die Rede, ein Staat, der es nicht schafft, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und seine Bürger zu beschützen.

Das kann man übertrieben finden. Aber auch solche Sorgen werden nicht kleiner, schaut man sich an, wie schwer es den Behörden gerade fällt, die nächtlichen Gewaltexzesse unter Kontrolle zu kriegen. Da helfen auch die höhnisch-provozierenden Einlassungen des Präsidenten nicht, der offenbar von der Spaltung und den Problemen seines Landes bei der Präsidentschaftswahl im November profitieren will.

Es wäre so wichtig, dass die Amerikaner einmal kollektiv tief durchatmen, zur Besinnung kommen und gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll. Doch eine Atempause ist nicht Sicht.

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