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Politik: Putins soziale Revolution

Eine hastig am Wochenende gedruckte Broschüre mit dem Titel „Zur Sache“ sollte den Abgeordneten der Kremlpartei Einiges Russland eine Vorstellung davon geben, worüber sie am Dienstag in der Duma abstimmen mussten. „Man hat den Deputierten doch nichts erklärt, jetzt können sie wenigstens kurz nachlesen, worum es geht“, sagte Parteisprecherin Tatjana Martschenko.

Eine hastig am Wochenende gedruckte Broschüre mit dem Titel „Zur Sache“ sollte den Abgeordneten der Kremlpartei Einiges Russland eine Vorstellung davon geben, worüber sie am Dienstag in der Duma abstimmen mussten. „Man hat den Deputierten doch nichts erklärt, jetzt können sie wenigstens kurz nachlesen, worum es geht“, sagte Parteisprecherin Tatjana Martschenko. „Unsere Partei hat sich entschlossen, mit der sozialen Lüge ein für alle Mal aufzuräumen“, lautet da der Antwortvorschlag auf die Frage, warum das Gesetz zu unterstützen sei.

Die Duma verabschiedete dann am Dienstag das Gesetzpaket, das einer sozialen Revolution gleichkommt. Alle vom Staat gewährten Vergünstigungen, die so genannten „lgoty“, werden abgeschafft. Ihr Verlust soll teilweise finanziell kompensiert werden. Für 2005 sind aus dem Staatshaushalt dafür umgerechnet 4,7 Milliarden Euro vorgesehen. 33 Millionen Russen sollen künftig auf diese Weise vom Staat subventioniert werden. Bislang hatten jedoch 103 Millionen Russen, das sind 70 Prozent der Bevölkerung, ein Anrecht auf Vergünstigungen. Veteranen der Arbeit, Helden des Großen Vaterländischen Krieges, Überlebende der Blockade von Leningrad, Studenten und Tschernobyl-Arbeiter konnten kostenlose Nahverkehrstickets bekommen, zahlten bei Medikamenten die Hälfte ( sofern die Apotheke sie vorrätig hatte). Für Millionen von Rentnern waren die „lgoty“ fester Bestandteil der Altersversorgung.

Damit ist nun Schluss. Präsident Wladimir Putin will diesen undurchdringlichen Dschungel, der zu Sowjetzeiten wucherte, roden. Mit Monatszahlungen zwischen 800 Rubel (22 Euro) und 3500 Rubel (97 Euro) soll der Wegfall der Vergünstigungen ausgeglichen werden.

Bislang war der Handel mit den „lgoty“ ein Geschäft, das Korruption Tür und Tor öffnete. Außerdem räumte der Staat immer neue Vergünstigungen ein. Die kosteten auf den ersten Blick nichts, addierten sich jedoch zuletzt auf die theoretische Summe von 180 Milliarden Euro. Damit wäre der Staatshaushalt gesprengt worden. Um das Budget dennoch zu verabschieden, wurden Jahr für Jahr Vergünstigungen, auf die der Bürger ein Anrecht hat, unterschlagen.

Die Russen sind allerdings skeptisch. Umfragen zufolge lehnen zwischen 55 und 65 Prozent die Sozialreform ab. Sie fürchten Einbußen, zumal die Ausgleichsgelder nicht der Inflation angepasst werden. Die Radikalität der Putin’schen Sozialreform hat ihre Grenzen, wenn es an den eigenen Apparat geht. Die 550 000 föderalen und 1,2 Millionen regionalen Beamten erhalten ihre Extras weiter. Die Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ rechnete vor, dass ein Minister mit Datscha neben seinem Salär einen geldwerten Vorteil von jährlich 220 000 Euro bezieht. Ein Kriegsveteran bekommt 500 Euro.

Das Thema „Vergünstigungen“ hat Präsident Putin Rückhalt gekostet. Erstmals seit seinem Amtsantritt vor vier Jahren sanken seine Sympathiewerte unter 50 Prozent. Als Nationalbolschewisten das Büro des Sozialministers Michail Surabow stürmten, flogen denn auch gerahmte Porträts des Kremlchefs aus dem Fenster.

Bertram Werner[Moskau]

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