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Ein türkischer Polizist bewacht am Sonntag den Taksim-Platz in Istanbul.

© dpa

Update

Putschversuch und Gegenschlag in der Türkei: In Europa wächst das Unbehagen über Erdogan

Der Putschversuch in der Türkei und die Reaktion des Präsidenten werden in Europa sehr aufmerksam verfolgt. Die Politik fragt sich, ob die türkische Regierung ein verlässlicher Partner sein kann.

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In Berlin und Brüssel werden die Ereignisse in der Türkei aufmerksam verfolgt. Die „Säuberungen“ mit denen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem misslungenen Militärputsch seine Macht zementieren will, werfen viele Fragen auf. Auch für die künftigen Beziehungen zu dem ohnehin schon schwierigen Partner.

Was bedeuten der Putschversuch und seine Folgen für das Verhältnis zur EU?

Die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara werden durch die Reaktion von Staatspräsident Erdogan auf den Putsch nicht einfacher. Im Gegenteil: Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) erklärte, Erdogan gefährde mit seinem Vorgehen die Beitrittsverhandlungen mit der EU. Gemeint sind etwa die massenhafte Absetzung von Richtern und Staatsanwälten und Verhaftungen von Oppositionellen. „Wenn der Rechtsstaat durchlöchert wird, dann wird die EU in den Verhandlungen dazu sicher nicht schweigen“, sagte Maas den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Er forderte eine rechtsstaatliche Aufarbeitung des Putsches.

Eine unabhängige Justiz, Medien- und Meinungsfreiheit sind wichtige Kriterien, die ein Land erfüllen muss, wenn es der EU beitreten will. Auch die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Erdogan ins Gespräch gebracht hat, ist mit EU-Recht nicht vereinbar. Wie andere hat auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) Ankara davor gewarnt, die Regeln der Demokratie zu missachten. Eine Annäherung an die EU und erst recht eine Mitgliedschaft würden durch den Umbau des türkischen Staates zu einer Art Präsidialdiktatur wieder in weite Ferne rücken. Denn einen politischen „Rabatt“, also politische Zugeständnisse, soll es für das Land nicht geben. Die Türkei wird nur dann in die EU aufgenommen, wenn die formalen Voraussetzungen dafür auch wirklich erfüllt sind.

Wie beurteilt die deutsche Politik die Lage?

In der deutschen Politik lösen die Reaktionen des türkischen Präsidenten Erdogan Besorgnis aus. Allein seine Wortwahl („Säuberungen“, „Viren“) ließen Befürchtungen wach werden, der Präsident könnte den Putsch dazu nutzen, seine Macht weiter auszubauen und Kritiker mit undemokratischen Mitteln kalt zu stellen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mahnte, bei der Bestrafung der Umstürzler müssten rechtsstaatliche Verfahren eingehalten werden, Justizminister Heiko Maas (SPD warnte vor „Rache und Willkür“. CSU-Chef Horst Seehofer nannte die Aufarbeitung des Umsturzes eine Bewährungsprobe für das Land. Nach Ansicht von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) könnte der gescheiterte Umsturzversuch in der Türkei doch noch etwas Positives bewirken. „Der Putschversuch in der Türkei war ein Weckruf für die türkische Demokratie“, erklärte Steinmeier am Sonntagabend nach Angaben des Auswärtigen Amts auf Twitter.

„Ich hoffe sehr, dass die in höchster Not und Bedrängnis gezeigte demokratische Einheit aller maßgeblichen zivilen und politischen Kräfte in der Türkei dazu beitragen kann, die großen Spannungen und tiefen Gräben in der türkischen Gesellschaft zu überwinden.“ Es habe sich gezeigt, dass die Türken nicht unter dem „Joch einer Militärdiktatur“ leben wollten. „Es bleibt dabei außerordentlich bitter, dass das Abenteurertum einiger Militärs und ihre Verachtung für demokratische Prozesse so viele Menschenleben gekostet hat.“ Steinmeier ermahnte aber unter anderem auch die politische Führung um Präsident Recep Tayyip Erdogan, sie müsse bei der Aufarbeitung des Putschversuchs alle rechtsstaatlichen Grundsätze beachten.

Wird die geplante Visafreiheit nun auf Eis gelegt?

Ob sich durch die neue Lage in der Türkei zusätzliche Änderungen oder Hindernisse für die geplante Einführung der Visafreiheit für türkische Staatsbürger ergeben, muss sich erst noch zeigen. Klar ist: Auch sie wird erst umgesetzt, wenn die Türkei die von der EU genannten Bedingungen dafür erfüllt. Staatspräsident Erdogan hatte die Abschaffung des Visazwangs für seine Landsleute als Gegenleistung für die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland gefordert. Die EU stimmte dem zu, stellte aber insgesamt 72 Bedingungen. Der Großteil ist inzwischen umgesetzt. Streit gibt es jedoch über die von der EU geforderte Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze. Aus Brüsseler Sicht sind sie unverhältnismäßig und können von der Regierung missbraucht werden, um gegen kritische Journalisten und Oppositionelle vorzugehen. Ankara hält aber an den Gesetzen fest. Ob und wann die für Sommer geplante Visafreiheit tatsächlich eingeführt wird, ist daher fraglich.

Seehofer sagte, seine Bedenken hinsichtlich der Visafreiheit für Türken in der EU seien „noch stärker geworden“. Auch Vertreter anderer Parteien äußerten ihre Besorgnis über den Fortgang der türkischen-europäischen Beziehungen. Ohnehin ist ungewiss, wie Erdogan selbst sein Verhältnis zu Brüssel künftig gestalten will. Der Machtzuwachs durch die Niederschlagung des Putsches könnte seine Einstellung zur EU grundlegend verändern. Das Flüchtlingsabkommen steht damit mehr denn je auf der Kippe.

Welche Folgen hat die Situation im Nato-Land für die deutschen Soldaten?

Die auf dem Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten deutschen Soldaten sollen dort bleiben. Nach Angaben des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr haben sie von den Ereignissen rund um den Putsch ohnehin nur wenig mitbekommen. „Es gilt weiter die höchste Sicherheitsstufe, doch die Lage in Incirlik ist ruhig“, so die Sprecherin. Seit Samstag gebe es keinen Strom auf dem Stützpunkt, die Versorgung werde aber über Dieselgeneratoren sichergestellt.

Eine Meldung der Zeitung „Hürriyet“, wonach der türkische Standortkommandant und mehr als ein Dutzend weitere türkische Soldaten nach dem Putsch festgenommen wurden, konnte das Einsatzführungskommando nicht bestätigen. „Hürriyet“ beruft sich aber auf türkische Regierungskreise. Vor dem Stützpunkt sind in der Putschnacht zudem Schüsse gefallen. Über die Hintergründe sei aber nichts bekannt, sagte die Sprecherin. Die 244 deutschen Soldaten verlassen die Basis im Süden der Türkei, die hauptsächlich von der US-Armee genutzt wird, derzeit nicht. Auch der Flugbetrieb ist eingestellt. Seit Januar fliegen von hier aus Tornados der Bundeswehr Aufklärungsflüge über Syrien, ein Luftbetankungsfluzeug unterstützt Einsätze der internationalen Allianz gegen den „Islamischen Staat“.

Wie ist die Lage der deutschen Touristen in der Türkei?

Nach Angaben von Steinmeier befinden sich derzeit 200.000 deutsche Urlauber in der Türkei. Diese Zahl nannte der SPD-Politiker der „Bild am Sonntag“. Das Auswärtige Amt warnt nach wie vor nicht generell vor Reisen in die Türkei. Es rät Bundesbürgern in Istanbul und Ankara aber zu äußerster Vorsicht, insbesondere auf öffentlichen Plätzen und bei Menschenansammlungen. Die meisten deutschen Touristen wollen nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei nicht vorzeitig in ihre Heimat zurückkehren. Die Lage in den Urlaubsressorts sei weiter ruhig und es gebe nur sehr wenige Gäste, die abreisen wollten, sagten Sprecher der Reisekonzerne Thomas Cook und Tui.

Die Lufthansa nahm am Sonntag den Flugbetrieb in die Türkei wieder auf. Verunsicherte Urlauber können aber kurzfristig ohne Mehrkosten Reisen in das Land stornieren oder umbuchen. Bei Tui, Alltours und Thomas Cook gelten die Stornierungsangebote allerdings nur für unmittelbar bevorstehende Reisen, kostenlose Umbuchungen sind noch länger möglich.

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