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Politik: Rabatt wird nicht gegeben Von Christoph von Marschall

Langsam beschleicht viele Europäer ein mulmiges Gefühl. Morgen wird die EUKommission die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei empfehlen.

Langsam beschleicht viele Europäer ein mulmiges Gefühl. Morgen wird die EUKommission die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei empfehlen. Die skeptischen Bürger wird weder die Versicherung des Erweiterungskommissars Günter Verheugen beruhigen, dieses Votum sei an harte Bedingungen geknüpft, noch Gerhard Schröders Prognose, dass die Verhandlungen zehn bis 15 Jahre dauern werden. Denn der Kanzler sagt auch: Das Ziel der Gespräche ist der Beitritt. Wird da ein unaufhaltsamer Automatismus in Gang gesetzt – obwohl die öffentliche Stimmung in praktisch allen EU-Staaten dagegen steht? Der Kanzler, den Mut darf man ihm attestieren, hat sich damit auch gegen die meisten Medien gestellt. Anders als bei der Ost-Erweiterung sind viele Mitglieder der EU-Kommission und mehrere EU-Regierungen skeptisch. Nur will keiner der Sündenbock sein, der den Beschluss verhindert.

Aber das ist nur eine der vielen Unehrlichkeiten bei dem vertrackten Thema. Wie ja auch der Verdacht, mit dem man gerne die Gegner überzieht: Sie seien verkappte Rassisten oder Islam-Hasser. Die Bedenken speisen sich aus vier anderen Quellen. Erstens liegt die Türkei nur zu einem kleinen Teil in Europa und hat eine ganz andere Geschichte, was Auswirkungen auf das Bild der Türken von Individuum, Staat, Gesellschaft und Rechtssystem hat. Das Land, das ist wahr, hat sich in jüngster Zeit rasant gewandelt. Aber kann und will es binnen weniger Jahre seine Traditionen endgültig über Bord werfen – Rolle des Militärs, Stellung der Frau, Umgang mit Andersdenkenden, Zwangsehen, Ehrenmorde? Und falls die Gespräche zu keiner Einigung auf die nicht verhandelbaren EU-Werte führen, wird dann der Zurückweisungsschock nicht noch größer sein?

Zweitens: Kann die EU, die jetzt erst mal die zehn Neuen aus dem Osten zu verdauen hat, diesen armen Koloss überhaupt verkraften? Das Sozialprodukt pro Kopf ist nur halb so groß wie bei den ex-sozialistischen Neumitgliedern. Um 2020 wird die Türkei mehr Einwohner als das vereinte Deutschland haben und einen entsprechenden politischen Machtanspruch in der EU. Drittens: Eine Aufnahme der Türkei bedeutet wohl zwangsläufig das Ende der Hoffnung auf politische Vertiefung. Viertens: Bindet die Festlegung nicht zu viele Kräfte und Mittel, die der EU anderswo fehlen werden?

Von den vielen Pro-Argumenten sind nur zwei tauglich: Die Grundsatzentscheidung, ob die Türkei Mitglied werden kann, ist nicht mehr offen, auch wenn viele das meinen. Die EU hat sie mehrfach getroffen, nicht nur vor 40 Jahren, auch 1999 wieder – einstimmig. Ein Zurück wäre ein Wortbruch. Der könnte freilich das kleinere Übel sein, bevor die EU an der Türkei zerbricht. Das Kronargument aber ist ein strategisches: Wenn die EU-Perspektive der Türkei hilft, zu einem demokratischen Rechtsstaat ohne jede Einschränkung zu werden, dann wäre das der Beweis, dass die islamische Prägung kein Hindernis ist, und ein Vorbild für andere muslimische Länder. Das ist auch die wichtigste Antwort, welchen Nutzen die EU von der Integration hätte. Nur ist das Kernziel der EU nicht Demokratieexport. Sondern: Europa mehr Wohlstand, Stabilität und Einfluss zu sichern.

Die meisten anderen Begründungen – ein Nein stoppt die Reformen, stürzt das Land ins Chaos, nützt den Islamisten – sprechen, zu Ende gedacht, gegen die Türkei. Ein Staat, der so instabil ist, dass er bei Misserfolgen gleich unberechenbar wird, hat in der EU nichts zu suchen.

Trotz allem lohnt es, das Experiment zu wagen. Aber nur, wenn die EU diese Gespräche erstmals wirklich ergebnisoffen führt: ohne Automatismus, dass sie zur Aufnahme führen müssen – freilich auch nicht als Alibiverhandlungen, deren Scheitern erwünscht ist. Eine Türkei, die alle EU-Bedingungen erfüllt, kann beitreten; sie wäre nicht mehr das Land, gegen das sich die Bedenken richten. Doch keine Rabatte, keine Aufnahme zu Lasten der Werte, die die EU ausmachen. Dürfen Deutschlands, dürfen Europas Bürger sicher sein, dass dies der einzige Kompass für ihre Regierungen sein wird?

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