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Politik: Raus aus der Winterdepression

Von Hermann Rudolph

Ach, es kommt immer eins zum anderen. Zum Volkstrauertag das Novemberwetter. Erste Schneefälle, natürlich mit Verkehrschaos. Und dann, präzise auf den Punkt der beginnenden Winterdepression platziert, das Gutachten des Sachverständigenrats. 1,4 Prozent Wachstum im nächsten Jahr, mehr als fünf Millionen Arbeitslose im Februar – das Wetter dazu kann man sich vorstellen –, und die europäische Wirtschaftsmacht Nummer eins wieder auf der europäischen DreiProzent-Anklagebank. Gewiss, die Wirtschaftsweisen klauben unverdrossen das Gute aus dem Befund. Aber ihre Botschaft schlägt dennoch schwer aufs Gemüt. Nach so vielen Reformverrenkungen: Was, beim Himmel, kann man eigentlich noch tun, damit sich auf dem Feld von Wachstum und Beschäftigung etwas tut? Und wie bewirkt man so viel Aufschwung, dass diese Gesellschaft aus dem tiefen Tal der Zerknirschung, in dem sie steckt, endlich herauskommt?

Man weiß ja auch in etwa, wie die Geschichte weitergeht. Die Fortführung der Reformen wird gefordert, eher mehr, nicht weniger. Und vermutlich beginnt eine neue Runde der Debatte über Kopfpauschalen und Bürgerversicherung. Nur besteht das Problem leider darin, dass diese Debatten mit ihren Windungen und Wendungen, Vorschlägen und Zurücknahmen die Sache nicht besser machen, sondern schlechter. Längst hat sich ein Gutteil der Bürger aus ihnen ausgeklinkt. Die Reformdiskussion ist selbst ein Reformhindernis erster Güte geworden. Sie löst das Problemknäuel nicht auf, sondern verwirrt es zusätzlich. Und drückt auf die Stimmung.

Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Deutschen eine fatale Neigung haben, ihre Lage zum Schlechteren zu reden. Wie die Armut, nach Fritz Reuter, von der Pauvreté kommt, so kommt bei uns die miesepetrige Stimmung von der Depression und der allgemeinen Verdrossenheit. Auch haben die Auseinandersetzungen, die wir unentwegt führen, längst den Glauben an das Instrumentarium aufgebraucht, mit dem Experten und Sachverständige beschwörerisch herumfuchteln. Selbst die Ruck-Rhetorik, mit der die Politiker das Volk behandeln wie weiland die Psychiater ihre Patienten mit Stromstößen, wirkt vermutlich inzwischen eher kontraproduktiv.

Aber die Debatte krankt auch daran, dass sie den Eindruck erweckt hat, Reformen wirkten wie ein Fahrkartenautomat: oben Hartz IV rein, unten Wachstum raus. Irgendwie sind wir okkupiert von dem Gedanken, dass man der Welt von Wirtschaft und Sozialem mit Rezepten beikommen könne – man also nur das richtige finden müsse –, obwohl wir doch andererseits aufgeklärt genug sind, zu wissen, dass es diese Man-nehme-Rezepte nicht gibt, schon gar in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dabei gibt es in Deutschland ja auch positive Beispiele – eine breite Bereitschaft zur Veränderung so gut wie Modernisierungsanstrengungen der Wirtschaft. Doch in einem Land, in dem man erst das Haar und dann die Suppe sieht, wird dergleichen kaum je öffentlichkeitswirksam. Man muss da wohl schon – wie der Welt-Chef eines jüngst in Dresden eingeweihten neuen AMD-Mikroprozessoren-Werkes – von jenseits des großen Teiches eingeflogen sein, um den Blick dafür zu haben.

Das ist kein Plädoyer fürs Gesundbeten. Die Lage ist nicht gut – daran ändern die kleinen Aufwärtstendenzen, die das Sachverständigengutachten ausmacht, nichts. Gleichwohl besteht kein Grund, diese Lage durch penetrante, nervende Debatten noch zusätzlich zu belasten. Auch bei Reformen steckt der Teufel im Detail, aber man kann Reformideen auch in Details ertränken. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Politiker die Bürger mit ihren Reform-Torsen verschonten und erst dann ihre Aufmerksamkeit beanspruchten, wenn sie ihre Konzepte zu Ende gedacht haben. Und wenn sie sich darüber im klaren wären, dass ihnen auf dem steilen Pfad der Um- und Neuorientierung vor allem eins nicht immer wieder passieren darf: mit viel Streitgetöse auf der Stelle zu treten.

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