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Politik: Rechenschaft vor dem Fall

Von Hermann Rudolph

Vertrauen ist der Lebensnerv der Demokratie. Es ist der Boden, aus dem ihre Legitimität erwächst. Wird die Vertrauensfrage gestellt, steht diese Zentralkraft unserer politischen Ordnung also in Frage – zumal auf so verquere Weise wie durch den Bundeskanzler an diesem Freitag –, ist Feuer unterm Dach.

Tatsächlich erlebt die Republik damit eine der spektakulärsten politischen Stunden ihrer Geschichte. Man muss weit ausholen, um Ereignisse von vergleichbarer Dramatik zu finden. Das Ende der Regierung Erhard 1966 mag einem einfallen, das Misstrauensvotum gegen Brandt 1972, die NeuwahlOperationen von Brandt und Kohl. Aber vielleicht geht dieser Tag noch darüber hinaus. Denn zum ersten Mal benutzt ein Kanzler dieses rigoroseste Instrument, mit dem er seine Position verteidigen kann, um die Macht zurück an die Wähler zu geben. Aus freien Stücken? Keine demokratische Legende, bitte. Diese Vertrauensfrage ist der Offenbarungseid eines Regierungsbündnisses, das vor sieben Jahren mit der ebenfalls erstmaligen direkten Ablösung einer Bundesregierung durch die Opposition antrat.

Es gehört zum bizarren Charakter dieses Ereignisses, dass Schröders Unternehmen das Parlament so gänzlich anders erreicht, als es begann. Damals, am Abend der Nordrhein-Westfalen-Wahl, erschien es als die Absicht – mutig und mutwillig zugleich –, die Menschen anzusprechen, um für seine Reformpolitik plebiszitär ein neues Mandat zu gewinnen. Aber ans Podium tritt der Bundeskanzler heute nicht mehr als Vorantreiber, sondern als Getriebener, und die Flucht nach vorn zu einem neuen Anfang, die man ihm vor sechs Wochen noch zubilligen mochte, hat sich in Rette-sich- wer-kann-Panik aufgelöst. Dass sich in so kurzer Zeit ein solcher politischer Wettersturz ereignen kann, ist ein atemberaubender Vorfall. Er lehrt uns etwas über die Abgründe, über denen Politik heute stattfindet.

Es mag ja sein, dass Schröder doch nach seinem alten Motto „Erst das Land, dann die Partei“ gehandelt hat. Aber dann hat sich noch niemand so folgenreich verkalkuliert wie dieser Kanzler. Die Umfragedaten schlagen aus wie Seismographen, die ein Erdbeben vermelden. Treffen sie auch nur annähernd zu, ist die Welt der deutschen Parteien für lange Zeit aus den Fugen – die Union nahe an der absoluten Mehrheit, die SPD im 26-Prozent-Keller, eingeschlossen ein polemisch-demagogischer Seitentrieb. Unter dem Verfertigen von Legenden wird die rot-grüne Ära zu Grabe getragen, als sei sie ein goldenes Zeitalter gewesen. Und die Opposition ist noch immer stumm vor Erstaunen, was ihr der Bundeskanzler beschert hat.

Angesichts dieses beispiellosen Schauspiels muss vom Kanzler zur Begründung der Vertrauensfrage mehr erwartet werden als abgezirkelte Formeln, mit denen er auf Segen des Bundespräsidenten und die Duldung durch das Verfassungsgericht schielt. Schröder schuldet dem Parlament und der Öffentlichkeit rückhaltlose Offenheit über seine Motive und Absichten. Dass die Koalition auseinander läuft, die SPD abdankt, auf alte Positionen zurückfällt, und die Grünen sich in die Büsche schlagen, zieht den Anspruch dieser Koalition im Nachhinein in Zweifel. Hat sich der Kanzler wirklich zu der Äußerung verstiegen, dass diese Koalition nicht für diese Situation geschaffen war? Damit fällte er nicht nur ein vernichtendes Urteil, sondern verschöbe auch die Schuld für das rot-grüne Scheitern auf die Koalition. Doch nach dem Grundgesetz trägt er die Verantwortung, hat er über seinen Umgang mit dem ihm anvertrauten Amt Rechenschaft abzugeben.

Findet der Kanzler dafür heute keine überzeugenden Worte, muss er sich über den Eindruck nicht beklagen, dass er, dieser letzte, am höchsten gestiegene unter den berühmt-berüchtigten Enkeln Brandts, doch nur ein politischer Spieler geblieben sei, allen Wandlungen zum Trotz, mit denen er in seiner Amtszeit überrascht hat. Das wäre ein härteres Urteil über Rot-Grün, als es dessen Gegner je gefällt haben.

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