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Politik: Rechnung mit Risiko

Frankreichs Premier Raffarin will ein Referendum zur EU-Verfassung – aber Staatspräsident Chirac zögert

Die zahlreichen Streiks und Kundgebungen auf den Straßen beweisen es: Die Franzosen mögen es nicht, wenn die politischen Eliten über ihren Kopf hinweg entscheiden. Dies ist ein Grund für den Vorstoß von Frankreichs Premierminister Jean-Pierre Raffarin, eine Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung vorzuschlagen. Überraschend ist der Vorschlag für Frankreichs europäische Nachbarn und politische Beobachter insofern, weil eine Abstimmung über das umfangreiche Statut der EU mit 25 Mitgliedern äußerst riskant wäre. Denn Frankreichs Bevölkerung ist derzeit europamüde. Dies gestand sogar Raffarin ein und sprach von einem „enormen politischen Risiko." Anders als in Dänemark und Irland, wo eine Abstimmung zwingend vorgeschrieben ist, wäre ein Referendum in Frankreich laut Verfassung nicht unbedingt Pflicht.

Doch seine demokratisch verpackten Argumente für ein Referendum, von denen er zudem den noch zögerlichen Staatspräsidenten Jacques Chirac überzeugen muss, scheinen zu überwiegen, trotz aller Gefahren, die Franzosen könnten die Verfassung womöglich ablehnen. Beim Thema Europa reagiert die französische Bevölkerung neuerdings mit Achselzucken, Kopfschütteln, Skepsis und sogar Ablehnung. Auf große Kritik stieß Raffarins hartnäckige Haltung, sich über die Brüsseler Finanzdisziplin hinwegzusetzen und den Stabilitätspakt erneut zu verletzen, sogar mit einem Haushaltsdefizit von 3,6 Prozent. Auch Raffarins rüder Umgang mit den EU-Beamten im Zusammenhang mit der Rettungsaktion des französischen Großkonzerns Alstom kam überhaupt nicht an. Raffarin hatte die EU-Beamten als kleinmütige Bürokraten abgetan. Raffarin ist also offenbar vor allem daran gelegen, seine eigene Position zu stärken und bei den französischen Wählern wieder an Terrain zu gewinnen.

Die Entscheidung, ob es zum Referendum kommt oder nicht, liegt aber ohnehin bei Chirac. Und der hält sich auch aus für ihn logischen Gründen derzeit vornehm zurück: In Erinnerung ist ihm noch das im Juli gescheiterte Bürgervotum über mehr Autonomie für die Insel Korsika. Ein ähnlich klares Nein der Franzosen zur EU-Verfassung, mitten in seiner zweiten Amtszeit, wäre für Chirac ein politisches Desaster, kommentierten am Donnerstag die Medien. Umfragen geben seiner vorsichtigen Haltung Recht: 74 Prozent der Franzosen sind zwar für eine Volksabstimmung, aber nur 54 Prozent würden der EU-Verfassung zustimmen. Das neue Europa mit seinen 25 Mitgliedern wäre dann der Sündenbock für alle Probleme in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Frankreich derzeit plagen.

Sabine Heimgärtner[Paris]

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