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Politik: Recht gerecht

Rente, Steuern, Subventionen – alle reden über Gerechtigkeit. Aber was ist das überhaupt? Experten auf dem Richtertag meinen: etwas hoch Politisches

Weil die Macht Gerechtigkeit nicht finden konnte, hat sie das Recht erfunden, meinte der französische Philosoph Blaise Pascal. Derzeit finden und erfinden die Mächtigen jedoch eine Menge Gerechtigkeit. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement etwa spricht von mehr Leistungsgerechtigkeit, SPD-Generalsekretär Olaf Scholz von mehr Chancengerechtigkeit und die Regierung unisono von Verteilungsgerechtigkeit – von weniger, in diesem Fall. Gerechtigkeit ist in Mode und, wie man spätestens seit der Antike weiß, Moden unterworfen. Deshalb haben die, die in der Demokratie originär für Gerechtigkeit zuständig sind, die Richter, den Begriff zwar meist im Kopf bei ihrer Arbeit, führen ihn aber fast nie auf der Zunge. Bis jetzt. Der 18. Deutsche Richter- und Staatsanwaltstag in Dresden hat die Gerechtigkeit am Dienstag zum Schwerpunktthema gemacht.

Zuvor hatte sich der Deutsche Richterbund schon einmal umgehört, wie bei Mächtigen, den weniger Mächtigen und den ehemals Mächtigen über Gerechtigkeit gedacht wird, abseits des politischen Hickhacks. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“, gab etwa Bundespräsident Johannes Rau zu Protokoll. Ungerecht dagegen ist die Steuerlast, meint Arbeitgeber-Präsident Dieter Hundt. Oder der Jugend die Folgekosten unserer Lebensführung aufzubürden, wie Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier es sieht. Ungerecht ist das unbedingte Streben nach Gleichheit, sagte Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt, oder der Ausschluss Alter von Leistungen der Krankenversicherung, so der frühere Bundesminister Heiner Geißler. Ungerecht, das ist der „Weltzustand“, stellte resigniert Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck fest.

Was aber ist Gerechtigkeit? Die Sehnsucht danach jedenfalls ist menschlich, wie die Diskutanten auf dem Podium in Dresden, der Konstanzer Rechtswissenschaftler Bernd Rüthers und Präses Manfred Kock, Ratsvorsitzender der EKD, übereinstimmend meinten. Wie Hunger und Durst, so steht es in der Bergpredigt, sagte Kock. Wie Sex, ergänzte Rüthers. Wie das Bedürfnis zu stillen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Nicht auf dem Podium, wohl aber in der Gesellschaft konstatierte Rüthers. Ursache dafür seien unterschiedliche Gerechtigkeitserwartungen aufgrund unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation. Dann aber kommt die Politik mit ihrer „Prägemacht“ ins Spiel und definiere „eindrucksvoll“, so Rüthers, was gerecht ist, etwa im gegenwärtigen Streit um Subventionen, Renten oder die Gesundheitskosten. Deutschland habe in den vergangenen 80 Jahren rund ein halbes Dutzend Systemwechsel erlebt, die extrem unterschiedliche Gerechtigkeiten produziert hätten. Die jeweilige „Systemgerechtigkeit“ sei maßgeblich für die Gerechtigkeitserwartungen des Einzelnen – allerdings führe sie nicht zu einem Konsens darüber.

Gerechtigkeit als ewiger, absoluter Wert schimmerte so nur bei EKD-Präses Kock durch, der sie dann aber etwas zurückhaltend „Regeln“ nannte, die man der folgenden Generation weiterzugeben habe. Rüthers gab dafür einen Einblick in die Relativität der Gerechtigkeit selbst höchstrichterlicher Entscheidungen. Am Erfurter Bundesarbeitsgericht etwa wechsele man seine Meinung zu wichtigen Dingen im Jahresabstand. Die Vorstellungen von Gerechtigkeit in Deutschland könnten sich zudem durch Neubesetzung einer Richterstelle am Bundesverfassungsgericht „praktisch über Nacht“ ändern, stellte er fest.

„Gerechtigkeit ist das Ergebnis von Kompromissen“, sagte Bernd Rüthers. Welches Vorverständnis die Meinungen beeinflusst, könne keinen allgemein gültigen Maßstäben unterworfen werden. Und das, meinte er, sei in unserem politischen System auch richtig so. „Demokratie ist, wenn keiner weiß, was eigentlich gerecht ist.“

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