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Rechtsextreme Gewalt: Dem Hass auf der Spur

Sie hörte die Worte, aber begriff nicht: Leyla, das Haus deiner Eltern brennt! Mit dem NSU-Prozess kehrt die Erinnerung an den rechtsextrem motivierten Brandanschlag auf ihre Familie wieder.

Seit 25 Jahren hat ihre Familie nicht gefeiert, und nun sollen sechshundert Gäste kommen. Was das wohl werden wird? Wie sich das anfühlen wird für Leyla Kellecioglu, die 44-jährige Frau in Schwandorf? Aber endlich gibt es wieder einen fröhlichen Anlass. Ihr jüngerer Sohn hat eine Frau gefunden. Er will sie heiraten, und weil es eine türkische Hochzeit ist, werden viele Verwandte erwartet. Aber ein bisschen geht es auch darum, mit dem Fest einen Schatten zu vertreiben.

Diesen Schatten sieht man Leyla Kellecioglu nicht an. Mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt sie in einem Einfamilienhaus mit Garten und Teich. Leyla Kellecioglu sitzt im Wohnzimmer. Es ist still, die Tochter ist in der Schule, ihre beiden Söhne und der Mann arbeiten. Die Nachbarschaft in der bayerischen Kreisstadt ist deutsch. In einem Mehrfamilienhaus mit vielen türkischen Klingelschildern wollte sie nie mehr wohnen, sagt sie.

Manchmal sind Klingelschilder ein Verhängnis.

Wie an jenem 17. Dezember 1988, als Leyla Kellecioglu weit nach Mitternacht in der Küche ihrer Wohnung saß. Gleich wollte sie sich schlafen legen, zu ihrem Mann und ihrem einjährigen Sohn. Dann heulten die Sirenen. Erst leise, dann immer lauter, bis sie ganz nah waren. „Es brennt!“, rief ein Junge von der Straße. „Leyla, das Haus deiner Eltern brennt!“

Sie hörte, aber begriff die Worte nicht. Ein Klopfen riss sie aus ihrer Erstarrung, jemand stand vor der Tür. Sie stand auf, schlüpfte benommen in Schuhe, warf sich einen Mantel über, und wie sie das heute wieder erzählt, erscheint es, als sei es eben erst geschehen. Es war der Schwager, der im selben Haus wohnte und der nun an ihre Tür schlug. Gemeinsam rannten sie hinaus in die Winternacht. Leyla Kellecioglu spürte die eisige Kälte. Sie atmete schwer, sie war im sechsten Monat schwanger. Hinter ihr, an einer Hauswand, klebte ein Aufkleber, ein Hakenkreuz, „Türken raus!“.

Das Haus ihrer Eltern lag nur zwei Straßenecken entfernt. Sie blieb stehen, erstarrt von dem, was sie sah: Flammen schlugen aus den Fenstern, schwarzer Rauch quoll aus dem Dach. Zwei Menschen hielten sich am Fenstersims fest, erster Stock, ließen sich in die Hände von Helfern fallen. Eine Familie mit zwei Kindern stieg über eine Drehleiter aus dem brennenden Gebäude. Wo sind meine Eltern? Mein Bruder? Leyla Kellecioglu schrie. Rettet meine Familie! Die bewohnte drei Zimmer im zweiten Stock, in denen es ebenfalls loderte. Sie hielt ihre Hand schützend vor die Augen. Ein Sanitäter schickte sie weg, es sei gefährlich, auch für das Ungeborene.

Vier Menschen sind bei dem Brand erstickt, man fand sie später in den Trümmern: Osman und Fatma Can, 50 und 44, deren Sohn Mehmet, 12, und der Deutsche Jürgen Hübener, 47. Zwölf weitere Bewohner konnten aus den Flammen gerettet werden, manche schwer verletzt. Später wird es heißen, dass ein Funke aus einem der Öfen gesprungen sei und den Brand verursacht habe. Doch die Kriminalpolizei verfolgt bald eine andere Spur. In Schwandorf wird Josef Saller festgenommen, ein stadtbekannter Neonazi.

„Ich habe keine Angst“, sagt sie, „ich habe das Schlimmste schon erlebt.“

„Wieso“, fragt sie heute, „wieso dieser Hass?“ Leyla Kellecioglu, braunes Haar, volle Lippen, wischt eine Träne von der Wange. Sie blickt durch gerötete Augen in die Vergangenheit, auf deutsche und türkische Zeitungsartikel, die über den Brand berichteten und die sie nun vor sich ausgebreitet hat. Sie bewahrt alles in einem geblümten Ordner auf. Aber zu den Akten gelegt hat sie nichts. Sie will sich erinnern, so oft es geht. „Erst wenn ich meine Eltern und meinen Bruder vergesse, sind sie wirklich tot“, sagt sie.

Der Junge, der damals in ihrem Bauch strampelte, ist nun 24 Jahre alt, er ist es, der im Herbst heiraten wird. Man kann sagen, dass es auch ein normales Leben für Leyla Kellecioglu gibt, dass es irgendwie weitergegangen ist nach dem Anschlag. Was den Familien bevorsteht, die ihre Angehörigen durch die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verloren haben, hat Leyla Kellecioglu in gewisser Weise bereits hinter sich. Als die Terror-Zelle vor zwei Jahren aufflog, wühlte das auch bei Leyla Kellecioglu alles wieder auf. Weil es eine alte Furcht bestätigte. Man sieht immer nur wenige, dahinter tut sich ein Netzwerk auf. Wenn vom 6. Mai an das Oberlandesgericht München über den NSU-Terror verhandelt, will auch Leyla Kellecioglu endlich eine Antwort: „Warum hasst ihr uns?“

Sie hat erfahren, dass der damalige Täter darauf keine Antwort wusste. Am ersten Prozesstag, 2. April 1990, saß sie im Landgericht Amberg dem Angeklagten gegenüber, keine fünf Meter entfernt. Er lächelte kühl. Ihre Blicke trafen sich. Leyla Kellecioglu fürchtete sich nicht. Die Frage bohrte sich ihr durch Herz und Hirn. Sie meinte, platzen zu müssen, so voller Wut und Ungeduld war sie. In der Verhandlungspause sah sie ihre Chance, kroch unter der Absperrung hindurch, stürzte durch den Gerichtssaal zum Angeklagten hinüber, kam Josef Saller so nah, dass sie ihm ins Gesicht spucken konnte. „Warum hast du das getan?“, schrie sie.

Jetzt, viele Jahre später, richtet Leyla Kellecioglu den Oberkörper auf, blickt stolz aus grünen Augen. „Ich habe keine Angst“, sagt sie, „ich habe das Schlimmste schon erlebt.“

Wer in Deutschland von rechtsextremen Brandanschlägen spricht, beginnt mit Mölln, 1992. Weiter zurück reicht die Erinnerung nicht. In Schwandorf tat man die Tat als die eines „Einzelgängers und politischen Wirrkopfes“ ab. Niemand wollte sich mit dem rechtsextremen Hintergrund auseinandersetzen. Niemand außer Irene Maria Sturm, ehemalige Grünen-Stadträtin und Landtagsabgeordnete. Zum ersten Mal beantragte sie 1994 das Aufstellen eines Mahnmals in Schwandorf. Abgelehnt. Sie versuchte es wieder. 1998. Abgelehnt. 1999. Abgelehnt. 2001. Abgelehnt. Eine Granittafel mit den Namen der Toten war längst aus Spenden finanziert und angefertigt, aber Sturm rannte gegen eine Wand.

„Die Toten werden in Erinnerung bleiben, eines Mahnmals bedarf es dafür nicht“, sagte der Oberbürgermeister, 1994. Anfang der 90er Jahre stieg die Zahl der rechtsradikalen Übergriffe bundesweit dramatisch an, der damalige bayerische Innenminister Edmund Stoiber äußerte sich in einer Pressemitteilung: „Glücklicherweise waren im Freistaat bisher keine Todesopfer zu beklagen.“

Schwandorf sollte in der politischen Diskussion nicht zum Synonym für Ausländerhass werden. 21 Jahre brauchte die Stadt, um eine Gedenkfeier zu organisieren. 19 Jahre dauerte es, eine kleine Gedenktafel anzubringen, bis heute ohne Stadtratsbeschluss.

Immer wieder besucht Leyla Kellecioglu Schulen, Kirchen und Moscheen, um zu erzählen, was damals geschehen war. Berichtet, wie sie in der Küche gesessen habe, die Bilder der Flammen im Kopf, erschöpft und umgeben von Verwandten, Freunden, Nachbarn. Wie ihr einjähriger Sohn schrie. Sie wickelte und fütterte und schürte den Ofen, mechanisch, als wäre der Körper unbewohnt. Die anderen wussten es schon von der Feuerwehr, doch sie schwiegen. Nicht einmal ihr Mann schaffte es, mit ihr zu sprechen. Und Kellecioglu wartete weiter, dass der Vater klingeln und sie erlösen würde.

Motiv Ausländerhass: Der Täter habe Türken ärgern wollen, nicht töten

Um neun Uhr morgens klingelte es tatsächlich. Eine Nachbarin, auch Türkin, erzählte ihr die Wahrheit. Deine Eltern und dein Bruder sind tot. Simdi aglayabilirsin! Du darfst jetzt weinen!

Sie war allein damals, sagt sie. Sie hatte keine Anwälte, keine Psychologen, die ihr den Weg wiesen. Jahrelang plagten sie Kopfschmerzen, war ihr übel. Sie ist jung, sie schafft das, sagten die Nachbarn. „Ich war stark“, sagt sie selbst. Sie machte weiter, Schritt für Schritt, Tag für Tag.

Ihr Vater war Gastarbeiter. Wenige Wochen nachdem seine Tochter Leyla geboren worden war, kam er 1969 nach Deutschland. Er schuftete in einem Eisenwerk, die Hände waren abends so dreckig, dass er sie beim Waschen blutig bürstete, Eisensplitter entzündeten seine Augen. Fünf Jahre später kam die Mutter nach, arbeitete erst in einer Konservenfabrik, später bei Siemens. Leyla und ihre beiden Schwestern wurden ebenfalls nachgeholt, ein Bruder kam zur Welt. Mehmet wuchs mehr deutsch als türkisch auf. Die Familie wollte bleiben.

Nun liegen die Eltern und der Bruder begraben in Iznik, der Heimatstadt der Familie, so groß wie Schwandorf, rund 200 Kilometer südöstlich von Istanbul. Leyla Kellecioglu selbst hat sie dorthin gebracht. Ihrer Schwester brachte sie die Halskette der Mutter mit, verkohlt, schwarz, darunter golden. Sie zog nie in die Türkei zurück, den Gefallen wollte sie dem Täter nicht tun. Sie putzt täglich zwei Stunden in einer Schule, betet zweimal in der Woche in der Moschee, kümmert sich um Haus und Kinder, trifft Bekannte, Deutsche wie Türken. „Wir sind glücklich hier“, sagt sie.

Wer ihr gegenüber sitzt, sieht es ihr an. Kein bitterer Blick, keine verzweifelte Miene. Niemand, der sie trifft, würde ahnen, wie sie gelitten hat.Die Familie fühlt sich willkommen in der Stadt, vor allem, seit 2002 ein neuer Oberbürgermeister im Rathaus sitzt. Als ihr Ehemann kürzlich arbeitslos war, organisierte ihm der Oberbürgermeister einen Job in der Gemeinde.

Immer wenn sie vergessen wollte, gab es neue Nachrichten rechtsextremer Gewalt. Mölln, Solingen, Hoyerswerda, Hünxe, Rostock – und erst kürzlich Backnang, wo eine Mutter mit ihren sieben Kindern ums Leben kam. Wieder ein Unfall, bei dem Türken brennen? Sie zweifelt daran. Und dann der Nationalsozialistische Untergrund. Die Blutspur ist immer länger geworden.

Josef Saller war allein, so steht es später in dem Urteil, als er in jener Nacht durch Schwandorfs Straßen schlenderte. Gegen Viertel vor elf klebte er einen Aufkleber an eine Hauswand, ein Hakenkreuz, „Türken raus!“. Kurz nach Mitternacht stand er vor einem von Türken bewohnten Haus. Er trat in den Hausflur, guckte sich im Schein eines brennenden Streichholzes um. Da, zwei Kartons voller Packpapier. Er zündete sie an, schnell reichte ihm das Feuer bis zur Brust. Er hörte eine ausländische Männerstimme rufen, flüchtete. Die Holztreppe fing Feuer, die Flammen erfassten das ganze Haus. Bei seiner Festnahme zwei Wochen später legte er ein Geständnis ab, das er Tage später widerrief. Im Laufe des Verfahrens gab er Ausländerhass als Motiv an. Er habe die Türken ärgern wollen, nicht töten.

Der Lackiererlehrling war organisiert in der mittlerweile verbotenen Nationalistischen Front, er war ein Außenseiter, ging gern mit seinem Baseballschläger spazieren. Ein Lehrer sagt, wir haben das unterschätzt. Seine rechte Gesinnung wirkte sich strafverschärfend auf das Urteil aus. Wegen besonders schwerer Brandstiftung wurde er zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Er ging als Außenseiter ins Gefängnis und kam frei als Held.

Die Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene und ihre Angehörigen (HNG) nahm sich seiner im Gefängnis an. Neonazis gründeten die HNG in den 70er Jahren, seit 2011 ist sie verboten. Ihr Ziel: Gefängnisinsassen auf dem rechten Wege halten. Nach Informationen der "Zeit" sollen auch die späteren NSU-Mitglieder Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sich als Jugendliche daran beteiligten haben. Mitte 2001 kam Saller frei. Leyla Kellecioglu erträgt nicht, dass er frei ist. Lebenslang wäre gerecht gewesen, sagt sie.

Als die Nachbarin gegangen war, wollte Leyla Kellecioglu sterben. Tagelang aß sie nicht, trank kaum. Drei Monate später kam ihr Sohn zur Welt, sie nannte ihn Mehmet, nach dem toten Bruder, konnte aber monatelang den Namen nicht aussprechen. Der Kleine wurde mit einem Herzfehler geboren, medizinisch nicht zu erklären. Der Kardiologe fragte: Haben Sie während der Schwangerschaft etwas Schlimmes erlebt?

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Susanne Faschingbauer

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