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Politik: Rechtsextremismus: Auch in der DDR nicht zu übersehen

Deutschland ist gerade vier Tage wiedervereinigt, als das erste Todesopfer rechter Gewalt beklagt werden muss. Drei junge Männer greifen im brandenburgischen Lübbenau mehrere Polen an - einer von ihnen, Andrzej Fratczak, stirbt nach einem Messerstich.

Von Frank Jansen

Deutschland ist gerade vier Tage wiedervereinigt, als das erste Todesopfer rechter Gewalt beklagt werden muss. Drei junge Männer greifen im brandenburgischen Lübbenau mehrere Polen an - einer von ihnen, Andrzej Fratczak, stirbt nach einem Messerstich. Das ist der Auftakt zu einer Serie rechter Gewalttaten, die auch zehn Jahre später kein Ende nimmt. Die Folge: "In West-Berlin lebende Migranten fühlen sich heute stärker eingesperrt als vor dem Mauerfall", sagt die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John. Was auch bedeutet: Der Rechtsextremismus hat sich in Teilen der Bundesrepublik etabliert.

Der Straßenterror von Skinheads und anderen Neonazis war 1990 kein neues Phänomen. In der DDR gab es in den achtziger Jahren einen harten Kern von 5000 militanten Rechtsextremisten, mit einem Anhang von bis zu 10 000 Sympathisanten. Diese Zahlen nennt Bernd Wagner, einst Oberstleutnant der Kriminalpolizei der DDR und einer ihrer wenigen Rechtsextremismus-Experten. Nach Ansicht von Wagner brach die rechte Gewalt nicht plötzlich über den Osten herein, als das SED-Regime abdanken musste. Die rechte Szene konnte lediglich freier agieren als vor dem Mauerfall, und sie bekam stärker als zuvor schon Unterstützung von westdeutschen Neonazis. Auch wenn der Einfluss von Führungsfiguren wie dem Hamburger Michael Kühnen nicht unterschätzt werden darf - die Gewalt hätte auch ohne ihn zugenommen.

Die Entwicklung des Rechtsextremismus im wiedervereinigten Land kann in drei Phasen unterteilt werden. Auch wenn der erste Abschnitt nicht im Oktober 1990 beginnt, sondern lange davor - im Osten wie im Westen. Ihr Ende kann allerdings relativ genau mit dem Jahr 1993 beziffert werden. Da hatte die neue Bundesrepublik den ersten großen Schrecken hinter sich.

Hoyerswerda und Rostock sind heute noch Synonyme für rassistische Ausschreitungen. 1991 und 1992 haben Skinheads und andere Neonazis zahllose Unterkünfte von Asylbewerbern attackiert, nicht selten unter dem Beifall der Anwohner. Als es den Randalierern in Hoyerswerda und Rostock gelang, die Polizei zum Abtransport der Flüchtlinge zu zwingen, konnte die gesamte Bundesrepublik die Dimension der Gefahr erkennen. Den alltäglichen Rassismus von vielen normalen Bürgern setzen junge Neonazis in Gewalttaten um.

Auf die Schocks von Hoyerswerda, Rostock sowie Mölln und Solingen - hier starben bei Brandanschlägen 1992 und 1993 insgesamt acht Türkinnen - reagierte der Staat massiv. Auch viele Bürger wurden nun aktiv: Hunderttausende gingen auf die Straßen und bildeten Lichterketten, allerdings vornehmlich in Westdeutschland. Der Protest markiert den Auftakt zu Phase zwei. Die Innenminister von Bund und Ländern verboten von Ende 1992 bis 1994 acht Neonazi-Vereine. Vor allem die Zerschlagung der vier großen Organisationen "Nationalistische Front", "Deutsche Alternative", "Nationale Offensive" und der schon 1952 gegründeten "Wiking Jugend" haben die Szene erschüttert. Die Konsequenz: 1994 und 1995 ging die Zahl der Straftaten deutlich zurück. Politiker, Sicherheitsexperten und viele Bürger hofften nun, der Rechtsextremismus sei nachhaltig eingedämmt. Dass fremdenfeindliche Vorurteile weiter grassierten, vor allem in Ostdeutschland, wurde als eine Art Restrisiko hingenommen. Wie auch das Fortbestehen eines beträchtlichen Potenzials gewaltbereiter Rechtsextremisten.

So begann 1996 die dritte Phase, gleich im Januar. Da versuchte ein Neonazi im brandenburgischen Flecken Zechlin, gezielt eine Türkin zu überfahren. Im Nachhinein erscheint dieser Mordversuch wie ein Startsignal. Von da an häuften sich die Schreckensmeldungen. Wieder war der Osten am stärksten betroffen, mit Brandenburg an der Spitze. Der Punk Sven Beuter wurde totgetrampelt, der Brite Noël Martin und der Italiener Orazio Giamblanco erlitten so schwere Verletzungen. So ging und geht es weiter - der Tod des Obdachlosen in Schleswig, letzte Woche von zwei Skinheads erschlagen, scheint nur die jüngste Folge in einer Serie rechter Exzesse zu sein.

Außerdem hat sich die Szene neu geordnet. Etwa 100 "freie Kameradschaften", die elitären Skinhead-Orden "Blood & Honour" und "Hammerskins" sowie die NPD übernahmen das Erbe der verbotenen Vereine. Das Potenzial der meist jungen, kahlköpfigen Schläger ist schon seit 1994 wieder kontinuierlich gewachsen - von 5400 gewaltbereiten Rechtsextremisten auf zuletzt 9000, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem letzten Jahresbericht mitgeteilt hat. Und den "normalen" Alltagsrassismus gibt es nach wie vor, die Verbindung mit der Gewalt bleibt intakt.

Ob die in diesem Sommer so heftig geführte Rechtsextremismus-Debatte, das schnelle und harte Urteil nach dem Mord an Alberto Adriano in Dessau sowie das Verbot von "Blood & Honour" etwas ändern, ist noch nicht abzusehen. Wann sich Ausländer, Linke, Obdachlose, Punks, Juden, Homosexuelle, Sinti, Roma, Behinderte und andere von den Rechten als "undeutsch" diffamierte Gruppen in Deutschland weitgehend angstfrei bewegen können, weiß niemand.

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