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Rechtsextremismus: Kindheit in braun

Ulrike wurde in die Neonaziszene hineingeboren. Sie war Mitglied der Heimattreuen Deutschen Jugend, die heute verboten worden ist. Von einem Leben im Harz mit Morgenappellen und Trachtenröcken.

Morgens um viertel vor sechs hatten Trompeten die Kinder geweckt. Punkt sechs war "Morgenappell". Antreten in Reih und Glied, die Mädchen links, die Jungen rechts. Morgenlauf, Liegestütze, Kniebeugen, danach waschen, umziehen, frühstücken. Der Ton der "Betreuer" war streng und zackig. Wer aus der Reihe tanzte, musste zusätzliche Liegestütze machen. Wer mal übermütig "Heil Hitler" brüllte, wurde nicht bestraft. Schließlich war das Lager der rechtsextremistischen "Heimattreuen Deutschen Jugend" (HDJ) hochkonspirativ organisiert. In diesem entlegenen Winkel des Harzes hörte vermutlich kein Außenstehender die Kinder. Wenn doch, gab es ja noch die "Bewacher". Junge Männer, die unter ihren Jacken Schlagstöcke trugen, "sicherten" Tag und Nacht das Lager.

Rund zehn Jahre ist das jetzt her. Ulrike war danach noch häufiger mit der HDJ unterwegs. Ihr Bruder brauchte dagegen nie wieder dahin - ihn wollten die HDJ-Kader um den Lüneburger NPD-Anführer Manfred Börm nicht mehr haben.

Ulrikes und Andreas' Mutter war lange Neonazi-Anführerin in Niedersachsen und Bremen. Vor eineinhalb Jahren ist Tanja Privenau* aus der Szene ausgestiegen. Nach 20 Jahren, in denen sie "Neonazi von Beruf" gewesen sei, räumt die 36-Jährige ein. Der Moment, als sie ihre Kinder aus dem HDJ-Zeltlager abholte, sei einer der wenigen gewesen, in denen sie schon damals an der eigenen braunen Gesinnung gezweifelt habe.

Verfolgungsdruck der einstigen "Kameraden"

"Ich weiß noch, wie wütend ich war", sagt die Mutter von fünf Kindern. "Ich dachte, ihr Schweine, am liebsten würdet ihr den Jungen vergasen." Seit dem Ausstieg musste die Familie bereits mehrmals umziehen, zu hoch war der Verfolgungsdruck der einstigen "Kameraden", zu hoch waren auch die bürokratischen Hürden, die sich vor der Familie auftürmten.

Ulrike sieht aus wie viele Mädchen mit 17. Sie trägt gerne verwaschene Jeans, enge T-Shirts und angesagte Turnschuhe. Sie liest viel, hört Musik und geht mit Freundinnen aus. Vor dem Ausstieg durfte sie nicht einmal Radio hören. Jeans waren tabu, Hosen generell bei Mädchen nicht gerne gesehen. "Das war oft peinlich", erinnert Ulrike sich. "Im Trachtenrock zur Schule."

"Dass du mir keinen Türken oder Neger anschleppst", sagte ihre Mutter. Immerhin konnte sie mit der diskutieren. Anders als mit ihrem Stiefvater. Der Bremer NPD-Aktivist Markus Privenau duldete keinen Widerspruch und keine Diskussion. "Er hat mich mal zusammengebrüllt, weil ich das Klavierstück eines jüdischen Komponisten üben wollte." In der nächsten Klavierstunde belog Ulrike ihren Lehrer. Sie möge das Stück nicht, daher habe sie nicht geübt. "Die Wahrheit durfte ich ja nicht sagen."

Leben in zwei Welten

Eine Kindheit in Braun bedeutet, in zwei Welten zu leben. Den Zwiespalt kennt Ulrike, "seit ich denken kann". Schon in der Grundschule lernte sie, dass es Dinge gab, die sie verschweigen musste. Jedenfalls vor bestimmten Leuten. Vor anderen nicht: Die meisten Freunde der Familie waren Rechtsextremisten. So gingen Tanja Privenau und ihre Kinder jahrelang bei den Börms in Lüneburg ein und aus, erzählt Ulrike. Auch mit Udo Pastörs' Tochter hat sie viel Zeit verbracht. Pastörs sitzt heute für die NPD im Schweriner Landtag. Bevor es ihn nach Mecklenburg-Vorpommern zog, lebte er mit seiner Familie im Ammerland.

Auf dem Foto strahlt Ulrike mit ihren Freundinnen um die Wette. Da war sie zwölf Jahre alt, es war ihr letztes HDJ-Lager. Alle Mädchen trugen weiße Blusen zu langen dunkelblauen Röcken. Das war so gewünscht bei der HDJ. Die Kleidung erinnert an die Uniformen von Hitlers "Bund Deutscher Mädel" (BDM), besonders wenn die Mädchen dazu auch noch ihre schwarzen Halstücher trugen.

Hart sollten die Mädchen werden, deshalb blieben Strumpfhosen auch im Winter verpönt. Selbst mehrtägige Wanderungen, bei denen die Kinder ihre Zelte abends auf- und morgens wieder abbauten, absolvierten Ulrike und ihre Freundinnen in Röcken. Abends machten sie sich am Lagerfeuer ihr Essen und sangen zur Gitarre. Den Tag über marschierten sie im Takt, den Trommeln vorgaben. Bei der HDJ klangen die Tage aus, wie sie begannen: Trompeten befahlen die Nachtruhe.

Ulrikes Mutter war als Jugendliche in der "Wiking-Jugend" aktiv. Die Organisation verstand sich als Nachfolgerin der Hitler-Jugend (HJ) und hat die Verherrlichung des Nationalsozialismus zu offensichtlich betrieben: 1994 hat das Bundesinnenministerium die "Wiking-Jugend" wegen ihrer "Wesensverwandtschaft mit der NSDAP und der Hitler-Jugend" verboten.

"Tischsprüche" verherrlichen Krieg und Gewalt

Für die Aussteigerin ist es "gar keine Frage", dass die "Heimattreue Deutsche Jugend" die Aufgaben der "Wiking-Jugend" in der rechtsextremen Szene übernommen hat. "Je früher Kinder indoktriniert werden, desto wahrscheinlicher ist der ›Erfolg‹." Deshalb nehme die HDJ bereits Kinder ab sieben Jahre auf. Gebetet wurde nicht bei der HDJ. "Vor jeder Mahlzeit musste ein Kind einen ›Tischspruch‹ aufsagen", sagt Ulrike. Gesammelt sind die Sprüche in HDJ-Publikationen wie "Tischsprüche für Heim, Fahrt und Lager". In dem braun eingebundenen Büchlein finden sich - inmitten banaler Reime wie "Apfel rot und Apfel rund. Wer ihn ißt, der bleibt gesund" - eindeutige Anspielungen auf eine "germanisch-heidnische" Ersatzreligion. Die haben einst Pseudowissenschaftler im Auftrag des SS-Reichsführers Heinrich Himmler als Teil der nationalsozialistischen "Blut-und-Boden-Ideologie" ersonnen. Die "Tischsprüche" verherrlichen Krieg und Gewalt: "Neben dem Pflug führt das Schwert! Ernten kann nur, wer sich wehrt." Es geht noch deutlicher: "Boden und Blut - heilig Gut!"

Standen weder Ausdauersport noch Wettkämpfe auf dem Programm, wurden die jüngeren Teilnehmer mit Basteln, Singen oder Tanzen beschäftigt, während die älteren zum "Unterricht" mussten. In Rhetorik zum Beispiel oder Menschenführung, Lagersicherheit oder Demonstrationsrecht. Solcher Unterricht blieb Ulrike erspart. Mit zwölf Jahren setzte sie sich durch und brauchte nicht mehr zur HDJ.

Aber ihr Leben blieb geteilt. Ihren Freundinnen durfte sie vieles von Zuhause nicht erzählen, auch nicht den Nachbarn oder Lehrern. "Warum, wusste ich nicht genau", sagt Ulrike. "Nur, dass das mit Hitler zu tun hatte, und damit, dass meine Eltern anders über den dachten." Manchmal hat sie sich auch verplappert. Zum Beispiel als es bei ihrer Freundin daheim Schoko- mit Vanillepudding gab, habe sie das "Rassenschande" genannt - und sich anschließend auf die Zunge gebissen. "Klar, dass das niemand witzig fand."

* Zum Schutz Tanja Privenaus und ihrer Familie wurden Details ihrer Biografie verändert, die nicht sinnentstellend sind.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Bremer Tageszeitungen AG (Hrsg.): Rechtsabbieger. Die unterschätzte Gefahr: Neonazis in Niedersachsen." Bremen 2008

Christine Kröger

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