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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerin Angela Merkel, Bundesratspräsident Dietmar Woidke, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Vosskuhle, beim Gedenken zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in Deutschland an der Neuen Wache Unter den Linden in Berlin.

© HANNIBAL HANSCHKE/AFP

Steinmeiers Rede zum Jahrestag des Kriegsendes: Die kraftvollen Worte des Bundespräsidenten gegen das Böse

Staatsgäste konnten nicht dabei sein bei der Rede des Bundespräsidenten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes. Allein aber ist Deutschland nicht mehr. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Geplant war es ganz anders. In einem offiziellen Staatsakt mit 1500 Gästen aus ganz Europa und dem Nahen Osten wollte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus gedenken. Das Präsidialamt hatte im Vorfeld schon auf die herausragende Bedeutung eines solchen Ausdrucks höchster staatlicher Würdigung hingewiesen, nicht nur im protokollarischen Sinne. Zu ersten Mal, 1995, hatte der damalige Bundespräsident, Roman Herzog, den 50. Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1945 in einem solchen Rahmen begangen.

Aber dann kam die Pandemie. Und so konnte der Bundespräsident, nur begleitet von den Repräsentanten der anderen vier höchsten Staatsorgane, vor der Neuen Wache Unter den Linden nur beschreiben, was eigentlich geplant gewesen war und nüchtern feststellen: „Nun zwingt uns die Corona-Pandemie, allein zu gedenken – getrennt von denen, die uns wichtig und denen wir dankbar sind“.

Am 75. Jahrestag des Kriegsendes spricht der Bundespräsident ohne Gäste an der Neuen Wache in Berlin

Anders als am 8. Mai 1945, als Deutschland tatsächlich alleine war, oder, in Steinmeiers Worten, „militärisch besiegt, politisch und wirtschaftlich am Boden, moralisch zerrüttet“, ist das Land aber heute nicht alleine. Die Abwesenheit von Gästen aus ganz Europa ist kein Zeichen des Dissenses, sondern rein physisch. Mental, politisch, moralisch, ist Deutschland Teil eines Europas, das sich in dem Satz „Nie wieder“ einig sei, so Steinmeier. Ein Satz, dem der Bundespräsident einen weiteren, spezifisch deutschen, hinzufügt: „Nie wieder allein!“

Beide Formulierungen sind auch ein Bindeglied zu zwei Reden des Staatsoberhauptes, deren Angelpunkt ebenfalls immer wieder die Gefährdung des Friedens durch Kräfte des Bösen war. Sowohl am 9. November 2018, bei einer Rede im Bundestag zum 100. Jahrestag der Ausrufung der ersten deutschen Republik durch Philipp Scheidemann, als auch am 23. Januar dieses Jahres beim 5. Weltholocaust-Forum in Yad Vashem, gab er der Sorge vor einem Rückfall in Nationalismus und Rassenhass breiten Raum – und damit verbunden dem leidenschaftlichen Appell, Europa als das einende Band der demokratischen Nationen nicht scheitern zu lassen.

Steinmeier wiederholt seine Aussage von Yad Vashem: Die bösen Geister sind in neuem Gewand noch da

In Yad Vashem sagte er: „Ich wünschte, sagen zu können, unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht… Aber die bösen Geister zeigen sich heute wieder in neuem Gewand“. Und weiter: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutschen haben für immer aus unserer Geschichte gelernt…, aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Diesen Gedanken, diese Sorge, die fast schon verzweifelt klang, greift er nun vor der Neuen Wache, am 8. Mai 2020, mit den gleichen Worten wieder auf: „Heute müssen wir uns selbst befreien, … von Hass und Hetze, denn sie sind doch nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand“. Und er erwähnt dann die Mordanschläge von Hanau, Halle und Kassel.

Damit ist klar, dass diese Gedenkrede zur mahnenden Wegweisung für die Deutschen selbst wird, denn, anders als 1945, gibt es „heute niemanden, der uns von diesen Gefahren befreit. Wir müssen es selbst tun. Wir wurden befreit, befreit zu eigener Verantwortung“. Damit ist Frank-Walter Steinmeier dann doch wieder bei Richard von Weizsäckers denkwürdigen Satz vom Tag der Befreiung, den er aber nun als Tag der Verpflichtung zur Bewahrung dieser Freiheit interpretiert.

Der Europa-Gedanke zieht sich als roter Faden durch die Reden Steinmeiers

Und Europa? Lange hat man den Deutschen, vor allem in den Jahrzehnten der Teilung der Nation, unterstellt, ihre Europa-Begeisterung sei nichts als ein Ventil, weil sich für sie jede Empathie für nationale Identität verbiete. Das habe sich eigentlich erst mit der Fußball-Weltmeisterschaft des Jahres 2006 geändert. Bei Steinmeier aber taucht der Europa-Gedanke nicht nur jetzt, in dieser schlichten Feierstunde auf, sondern auch schon vor zwei Jahren, am 9. November 2018, anlässlich einer Rede vor dem Bundestag zur 100. Wiederkehr des Jahrestages der Republikgründung durch Philipp Scheidemann.

Wer Europa scheitern lasse, gebe auch das Postulat des „Nie wieder“ preis, und das bezieht er nun nicht nur auf Deutschland bezogen, sondern drängend für den Zusammenhalt des Kontinentes.  Man mag es einen rhetorischen Kunstgriff nennen, aber damit ordnet Steinmeier Deutschlands Rolle für und nicht nur in Europa ein. Und die nationalen Egoismen, die chauvinistische Selbsterhöhung des eigenen Volkes, der eigenen Nation, all das hat sich ja nun wie eine ganz andere Form einer Pandemie durch den Kontinent gefressen.

Dass wegen der Corona-Seuche am 8. Mai 2020 nicht jener große Staatsakt „in Anwesenheit von Partnern und Verbündeten rund um die Welt“, wie Steinmeier es in seiner Grußformel beschrieb, stattfinden konnte, mag man bedauern. Ganz sicher aber wird diese halbe Stunde in der völligen Stille der sonst so turbulenten Straße Unter den Linden wegen ihrer Eindringlichkeit allen in Erinnerung bleiben, die der Zeremonie wie und wo auch immer folgen konnten.

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