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Zum Volkstrauertag sprach auch der russische Schüler Nikolai Desjatnitschenko im Bundestag.

© Soeren Stache, dpa

Rede zum Volkstrauertag: Russischer Schüler löst Sturm der Entrüstung aus

Der russische Schüler Nikolai Desjatnitschenko sprach zum Volkstrauertag im Bundestag. Nach seinem Appell für Frieden schlägt ihm im Netz blanker Hass entgegen.

Für Nikolai Desjatnitschenko aus dem westsibirischen Nowo Urengoi war der vergangene Sonntag aufregend. Der 17-jährige Schüler durfte im Bundestag während der Gedenkstunde zum Volkstrauertag sein Forschungsprojekt vorstellen. Er hatte das Schicksal des deutschen Wehrmachts-Gefreiten Georg Johann Rau erforscht. Der war nach der Kapitulation der Paulus-Armee in Stalingrad in russische Kriegsgefangenschaft geraten und dort 1943 gestorben. Hunderte solcher Schülerprojekte gab es bereits – ein wichtiger Beitrag zur deutsch-russischen Aussöhnung. Desjatnitschenko endete in Berlin mit dem Wunsch, dass „auf der ganzen Erde der gesunde Menschenverstand triumphiert und die Welt nie wieder Krieg sieht“.

In Russland ist der Auftritt in den sozialen Medien zugänglich. Er löste einen Sturm der Entrüstung aus. Rund 200.000 Menschen meldeten sich allein im Forum der Internet-Zeitung „gazeta.ru“ zu Wort. Desjatnitschenko hatte nämlich auch einen Satz gesagt, der für ihn und seine Lehrer schwerwiegende, auch strafrechtliche Folgen haben kann. Der Abiturient berichtete vom Besuch an dem Massengrab, in dem Rau liegt. „Ich habe die Gräber von unschuldig gestorbenen Menschen gesehen, darunter viele, die friedlich leben und nicht kämpfen wollten“, sagte Desjatnitschenko.

Verrat an den Großvätern

Blanker Hass schlug dem Schüler daraufhin im Netz entgegen: Er tue Buße vor den „unschuldigen Wehrmachtsoldaten“ und begehe Verrat an den Großvätern, hieß es. Jelena Kukuschkina, Abgeordnete in der Heimatregion des Schülers, schaltete die Staatsanwaltschaft ein: Sie möge Ermittlungen wegen „Rehabilitierung des Nazismus“ aufnehmen. Nach Artikel 354.1 des Strafgesetzbuches kann das mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden.

Verantwortlich seien die Erwachsenen, die den Schüler so haben reden lassen, empörte sich die Abgeordnete. So sehen es auch Politiker in Moskau. Ein Ausschuss des Föderationsrates, dem Oberhaus des Parlaments, forderte die Behörden auf, die Lehrinhalte an Desjatnitschenkos Schule grundsätzlich zu überprüfen. Für gewöhnlich wird es nach einem solchen Auftrag gefährlich für die Angegriffenen.

Selbst die Präsidialadministration hat zu dem „Fall“ inzwischen Stellung genommen. Dmitri Peskow, der Sprecher Wladimir Putins, nannte die Reaktionen am Dienstag eine „überspannte Hetzjagd“. Doch tatsächlich zeigt der Vorgang exemplarisch, wie Geschichtspolitik in Russland derzeit funktioniert: Eine Sache ist entweder schwarz oder weiß, alle Zwischentöne sind verdächtig. Es gereicht den Mitschülern Desjatnitschenkos zur Ehre, dass sie auf dessen Seite stehen.

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