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Reden zur Einheit: Einig in der Vielfalt

Die Hochstilisierung zum Wettkampf hat Christian Wulff und Joachim Gauck bei ihren Reden zur Deutschen Einheit so viel Interesse beschert wie selten zuvor. Das Ergebnis: Beide bereichern dieses Land.

Eigentlich müssten Christian Wulff und Joachim Gauck den Medien dankbar sein. Dankbar dafür, dass Zeitungen, Rundfunk, Internet und Fernsehen sich seit Tagen mit der Frage beschäftigten, wer von beiden nun die bessere, die wirkmächtigere Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit halten würde. Ein Thema, das sich die Journalisten nicht aus den Fingern gesogen hatten, sondern das von Politikern aller Lager ja erst einmal, hier mal mit kaum versteckter Häme, dort mal voller Sorge, hochgespielt worden war. Was war der Effekt? Sowohl die Rede des knapp gescheiterten Präsidentschaftskandidaten in Berlin als auch die des im dritten Wahlgang bestimmten Staatsoberhauptes in Bremen wurde mit so großem Interesse verfolgt wie kaum eine Ansprache zum 3. Oktober zuvor, nimmt man die historischen Reden des Jahres 1990 einmal aus.

Und die Bilanz? Gut, dass Deutschland beide hat. Jeder hat auf seine ganz persönliche Weise zum Nachdenken angeregt, Erreichtes gewürdigt und Fehlendes beklagt. Beide sind dem Anlass gerecht geworden, keiner hat Überflüssiges gesagt. Natürlich ist der 70-jährige Gauck, der protestantische Pfarrer, wortgewaltige Prediger, kämpferische Bürgerrechtler der beeindruckendere Redner von beiden. Regelmäßige, gläubige Besucher evangelischer Wortgottesdienste hätten nach Gaucks Ansprache vermutlich gesagt, sie seien von ihr gestärkt in den Tag hinausgegangen. Aber das festzustellen, mindert nicht im Geringsten die Ausstrahlung der Worte Christian Wulffs. Der fast 20 Jahre Jüngere verkörpert eine andere Generation als Gauck. Wenn er vom Erleben seines Sohnes in einem Kindergarten erzählt, fühlen sich Eltern kleiner Kinder spontan angesprochen. Dieser Präsident tritt bescheiden auf und nimmt sich zurück. Er weiß, dass ihm der andere rhetorisch überlegen ist und vermeidet gerade deshalb jede laute Tonlage, jede übertriebene Gestik.

Der eine, Gauck, kommt aus der Erfahrung der Diktatur und fordert deshalb die Freiheit zur Verantwortung ein, damit wir unserer Zukunft mächtig werden. Er will uns alle in die Pflicht nehmen, auch die Arbeitslosen und die bei uns lebenden Ausländer. Er warnt vor Parallelgesellschaften, weil sie das friedliche Miteinander der Kulturen gefährden. Wulff beschwört aus einem Leben in der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit von seiner Kindheit an ebenfalls das Engagement aller in Deutschland Lebenden. Aber er hört sich in seinem Glauben an die Kraft des Menschen, die Gesellschaft weiter zu entwickeln, fast versöhnend wie Johannes Rau und idealistischer als Gauck an. Dessen Wertekatalog enthält zwar kaum andere Begriffe als der Wulffs, aber er klingt deutlich konservativer. Das kann nur den überraschen, der geglaubt hatte, am 30. Juni sei in der Bundesversammlung ein Konservativer als Kandidat von Schwarz- Gelb gegen einen Progressiven auf dem Ticket von Rot-Grün angetreten. So einfach ist die Welt nicht. Gauck und Wulff sind zwei Seiten einer Medaille namens Deutschland. Beide bereichern dieses Land, hinter beider Ansichten und Lebensentwürfen können sich Millionen Bürger versammeln.

Als Bundestagspräsident Norbert Lammert am Abend vor dem Reichstag an den Jubel vor 20 Jahren erinnerte, war der dritte Bewerber des imaginären Sängerwettstreits Gastgeber – aber bei einem fröhlichen Fest, das von vielen künstlerisch gestaltet wurde, die 1990 noch gar nicht geboren oder kleine Kinder waren – ein schöner Schlusspunkt eines erinnerungsträchtigen Wochenendes.

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