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Reemtsma über die RAF: "Nichts dahinter als Größenwahn"

Die Debatte über die historische Rolle der Roten Armee Fraktion geht weiter. Während bislang oft der politische Hintergrund betont wurde, entdeckt der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma in der Bewegung die "schiere Lust am großen Knall". Ist das gerechtfertigt?

Hamburg - Hinter den Anschlägen und Morden terroristischer Gruppen wie der Roten Armee Fraktion (RAF) steht nichts "außer Größenwahn und Lust an der Gewalttat". Diese zugespitzte These vertrat der Literatur- und Sozialwissenschaftler Prof. Jan Philipp Reemtsma am Montagabend zum Auftakt der Veranstaltungsreihe "nachgedacht. Geisteswissenschaften in Hamburg". In der Debatte um die RAF-Terroristen sei bislang deren "schiere Lust am großen Knall" und Waffenfetischismus systematisch übersehen worden, sagte Reemtsma. Dagegen wies "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust auf den weltweiten politischen Hintergrund der RAF-Entstehung nach dem Jahr 1968 hin.

Mit der Veranstaltungsreihe wollen acht Hamburger Institutionen in dem von Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) ausgerufenen "Jahr der Geisteswissenschaften" 2007 ihre Arbeit vorstellen. Am Thema Terrorismus zeigte das Hamburger Institut für Sozialforschung mit seinem Vorstand Reemtsma auf, wie die Analyse von Literatur zum Verständnis eines modernen sozialpolitischen Phänomens beitragen kann. Basis der vor knapp 450 Zuhörern kontrovers diskutierten Thesen von Reemtsma war der Roman "Die Dämonen" von Dostojewski, in dem es um den realen Fall des anarchistischen Terroristen Netschajew im vorrevolutionären Russland geht - genau hundert Jahre vor der RAF.

Reemtsma: Terroristen neigen zu destruktivem Größenwahn

Es gebe Parallelen zwischen den beiden und anderen Terrorgruppen, sagte Reemtsma. Terroristen neigten zu destruktivem Größenwahn und Überhöhung des eigenen Selbstwertes. Sie grenzten sich scharf von anderen ab, benötigten aber zugleich ein Unterstützungsmilieu in der Bevölkerung. Die Mitglieder entschieden sich für die Terrorgruppe als Lebensform; "dafür muss man Waffen mögen". "Zum Selbstbild als Avantgarde gehört irgendwann die Tat." Dabei sei ein Mord an einem Mitglied als potenziellem Verräter als "gruppendynamische Maßnahme" und "Blutkitt" zu sehen. Auch müsse eine "unerhörte Gewalttat" begangen werden, um sich "als Elite jenseits aller Normen" zu erschaffen, sagte er.

Gegen diese gruppendynamische Sicht stellte der Medienmann Aust, Autor des Sachbuchs "Der Baader-Meinhof-Komplex (1985), die politischen Motive und den historischen Kontext. So habe es 23 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur angesichts des Vietnam-Kriegs und großer Ungerechtigkeiten weltweit ähnliche Gruppen gegeben, wie die Roten Brigaden in Italien, zudem die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und die Studentenbewegungen. "Viele hatten das Gefühl, man müsste Partei ergreifen und etwas tun", sagte der Soziologe. Er machte starke religiöse Komponenten bei einigen RAF-Mitgliedern aus, so bei Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, eine persönliche Krise oder Narzissmus. Auch der Zufall könne dazu führen, dass jemand in eine Terrorgruppe gerät - darin stimmten Aust und Reemtsma überein.

Die aktuelle heftige Debatte über die vorzeitige Freilassung von Brigitte Mohnhaupt und möglicherweise weiteren verurteilten RAF-Tätern 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst führte Aust darauf zurück, dass es sich hier um die zentralen Themen Gewalt und Menschlichkeit handele und wie der Staat damit umgehe. Im "Deutschen Herbst" 1977 hatte der Terror der RAF mit Morden, Attentaten und Entführungen einen blutigen Höhepunkt erreicht. (tso/dpa)

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