zum Hauptinhalt
Umstritten. Das neue Sexualstrafrecht soll den Kampf gegen Missbrauch voranbringen. Manche Experten warnen vor Belastungen für die Opfer.

© imago/McPHOTO

Reform des Sexualstrafrechts: Kommt jetzt die Populismus-Falle?

Das Gesetz zur Reform des Sexualstrafrechts ist fast fertig. Juristen kritisieren den Wegfall des Strafbefehls. Worum es dabei geht.

Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, bringt gern das Beispiel von dem Großvater, der seiner Enkelin mit sexueller Absicht an die bekleidete Brust gegriffen hat. Danach schämte er sich so sehr, dass er sich anzeigte und seiner Familie alles beichtete. Bisher ist das ein Vergehen, kein Verbrechen, der Täter erhält einen Strafbefehl, einen Prozess aber gibt es nicht.

In Zukunft wäre diese Tat ein Verbrechen, Mindeststrafe: ein Jahr Haft. Ein Strafbefehl als Sanktion fiele weg, stattdessen gäbe es ein öffentliches Verfahren. So sieht es der Entwurf des neuen Sexualstrafrechts-Gesetzes vor, der gerade bei den Bundestagsfraktionen diskutiert wird. „Diese pauschale Heraufstufung einer Tat zum Verbrechen ist für mich nicht uneingeschränkt gut“, sagt Rörig. Bemerkenswert, wenn der Missbrauchs-Beauftragte so etwas erklärt. Aber die Verhältnismäßigkeit stimme nicht mehr, sagt Rörig.

Hochrangige Richter, Staatsanwälte und Rechtswissenschaftler sehen das auch so. Sie haben im Rechtsausschuss des Bundestags ihre Einwände vorgebracht. Vor allem die geplante Abschaffung des Strafbefehls kritisieren sie. Die Frage ist jetzt: Werden ihre Einwände berücksichtigt?

[Wenn Sie die wichtigsten Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Ja, zumindest in Teilen. Johannes Fechner, Sprecher der SPD-Fraktion im Rechtsausschuss, sagt jedenfalls: „Wir beraten Lösungswege, dass Strafbefehlsverfahren möglich bleiben.“ Denn beim Strafbefehl könnten harte Strafen verhängt, aber dem Opfer eine belastende Verhandlung erspart werden. Auch spare die Justiz dadurch Ressourcen.

Ein Strafbefehl ist im Gesetzentwurf bis jetzt nicht mehr vorgesehen. Doch nur durch einen Strafbefehl kämen viele Ermittler zu Geständnissen, sagen die Experten. Viele Täter könnten so die Peinlichkeit eines öffentlichen Prozesses vermeiden. Wenn sie aber in Zukunft automatisch vor Gericht kämen, würden viele schlicht schweigen oder alles abstreiten. Bei unklarer Beweislage, wenn Aussage gegen Aussage stehe, müssten Täter dann freigesprochen werden, obwohl sie schuldig sind.

Öffentliche Empörung

Ohne die öffentliche Empörung 2020 über die Missbrauchskomplexe Bergisch Gladbach und Münster hätte es den Entwurf in dieser Form gar nicht gegeben. Aber die Taten waren so monströs, dass reflexartig der Ruf nach mehr Härte kam. „Da ist man vielleicht zu schnell populistischen Forderungen gefolgt“, sagt Rörig.

Jan-Marco Luczak, Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Rechtsausschuss, sieht die Situation beim Strafbefehl etwas anders als Fechner. „Natürlich gibt es oft eine unsichere Beweislage“, sagt er. „Aber wenn es die gibt, kann man auch fragen: Ist der Strafbefehl richtig? Die Schuld muss ja in einem Verfahren zweifelsfrei nachgewiesen werden.“ Und was mögliche Freisprüche von eigentlich schuldigen Tätern betreffe: „Empirische Belege dafür gibt es nicht.“ Niemand wisse, ob der Täter in einem Verfahren doch verurteilt worden wäre.

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's jetzt mit Tagesspiegel Plus. Jetzt 30 Tage kostenlos testen]

Außerdem würden Bewährungsstrafen die Ausnahme, wenn die Mindestfreiheitsstrafe ein Jahr betrage. „Durch die Einstufung als Verbrechen können auch die Verkehrsdaten eines Verdächtigen einfacher erhoben werden als bisher. Die Ermittlungsbehörden können Täter so leichter überführen“, sagt Luczak.

In einem weiteren Schreckensbild der Kritiker tauchen möglicherweise traumatisierte Kinder auf, Opfer, die in einem Prozess aussagen müssten. Szenen, die ihnen durch einen Strafbefehl erspart bleiben. Fechner sieht diesen Punkt auch. „Wir wollen gerade nicht, dass Kinder, die schon massiv durch die schlimmen Taten traumatisiert sind, nochmal durch Gerichtsverhandlungen leiden“, sagt er.

Auch für Luczak ist das ein Problem. Deshalb setze sich seine Fraktion „für das Mainzer Modell ein, dass kindliche Opferzeugen schützen soll. Dabei findet die Vernehmung außerhalb des Gerichtssaales durch den Vorsitzenden des Gerichtes in einem Nebenraum statt.“

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint das Aktuellste und Wichtigste aus Berlin. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de]

Viele zusätzliche Verfahren, das bedeutet natürlich auch viele neue Richter und Staatsanwälte. „Die Länder können jetzt schon mit den Ausschreibungsverfahren für neue Richterinnen und Richter, aber auch Staatsanwaltschaften beginnen“, sagte Rörig bereits im November 2020.

Begriff "sexualisierte Gewalt"

Für Fechner ist die Sache klar. „Der Schutz unserer Kinder vor diesen schrecklichen Verbrechen darf nicht am Geld scheitern. Mit unserem Pakt für den Rechtsstaat haben wir bereits 2000 zusätzliche Richter- und Staatsanwaltsstellen, finanziert vom Bund, geschaffen.“ Die Länder seien nun gefragt. Doch die Justiz in den Ländern ist unverändert personell bedenklich schlecht ausgestattet. Auch Luczak kann nur an die Verantwortlichen in den Ländern appellieren. „Es ist die ureigene Aufgabe der Länder, ihre Justiz entsprechend auszustatten.“

In diesem Punkt sind sich SPD- und CDU/CSU-Fraktion einig. Differenzen gibt es beim Begriff „sexualisierte Gewalt“. Der soll den bisher gebräuchlichen Begriff „sexueller Missbrauch von Kindern“ ersetzen. Die Union ist dagegen. „Bis auf eine Sachverständige haben alle den neuen Begriff abgelehnt“, sagt er. „Sexueller Missbrauch von Kindern“ sei als Bezeichnung in der Fachpraxis etabliert.

Das Problem aus Sicht des Anwalts Luczak: „Der Begriff Gewalt ist in der Rechtsprechung klar und relativ eng definiert. Es besteht die Gefahr, dass Übergriffe auf Kinder nicht mehr ohne weiteres erfasst werden.“ Wenn Täter etwa Opfer dazu überredeten, sexuelle Handlungen an sich oder anderen vorzunehmen, könne dies „sowohl juristisch als auch umgangssprachlich nicht ohne weiteres als Gewalt eingeordnet werden“. Es drohe Rechtsunsicherheit. Bis jetzt freilich beharre das Justizministerium „auf der missverständlichen Terminologie“.

Für ein Einigung ist nicht mehr viel Zeit. Fechner rechnet damit, „dass wir das Gesetz noch im Februar, spätestens im März verabschieden werden“.

Zur Startseite