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Regierungsbildung in Italien: Der Staatschef und die Trümmermänner

Nach langem Flehen und Bitten hat sich Giorgio Napolitano erneut zum Präsidenten wählen lassen. Aber jetzt müssen Italiens Politiker den Preis dafür zahlen und nach seiner Pfeife tanzen. Große Koalition heißt sein Befehl. Und endlich Ruhe in Rom. Basta!

Er hat seinen Stuhl weit vom Tisch zurückgeschoben. Er hat die Arme verschränkt und hört den anderen zu. Aber sein Mund kommt nicht zur Ruhe. Er kaut hohl, die Lippen presst er immer wieder aufeinander, wie einer, der einen bitteren Geschmack, ein wiederholt aufsteigendes Brennen in seinem Körper hinunterschlucken will. Dann schiebt er sich eine kalte Zigarre zwischen die Lippen, steht auf, geht hinter dem Podium auf und ab, setzt sich wieder, hört zu ...

Nein, Ruhe ist da keine mehr in Pier Luigi Bersani. Er ist der Verlierer der Stunde. Obwohl sie alle verloren haben. Bei ihm, dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten, der sich eben noch auf Wahlkampfplakaten vor rembrandtbraunem Hintergrund als Winston Churchill stilisiert, in ernster, aber Vertrauen erweckender Staatsmannpose ein „gerechtes Italien“ angekündigt hatte, ist die Niederlage am deutlichsten sichtbar. Zuerst ein nutzloser Wahlsieg im Februar, der lediglich zu drei gleich großen Minderheiten im Parlament geführt hat, und dann, vor ein paar Tagen in jenem Parlament, die Wahl des Staatspräsidenten. Bei der sah sich Bersani von Heckenschützen aus der eigenen Partei unmöglich gemacht. Französische Journalisten hätten geschrieben, sagt Bersani jetzt, da sich der erweiterte Vorstand des Partito Democratico am Dienstagabend zum ersten Teil der Generalabrechnung trifft, dass man Romano Prodi torpediert habe, „um mich zu treffen“. Es soll ein Scherz sein. Und die Pointe: „Im Ausland wissen sie halt nicht, dass wir Raketen mit Mehrfachsprengköpfen haben.“

Außer dem gequälten Bersani lacht keiner. Der Parteivorstand weiß, dass die Partei in Trümmern liegt. Am folgenden Tag wird es für Bersani noch schlimmer kommen.

Aber jetzt zürnt er : „Wir sind ein Spielplatz geworden, ein Kuckucksnest, wo jeder seine Individualität auslebt.“ Kurzes Luftholen. „Jedes Ordnungsprinzip ist verloren gegangen; die Linie der Partei zählt nichts.“ Beschwörend wiederholt Bersani den Satz gleich noch einmal. „Uns käme es eigentlich zu, wir müssten sagen, wie es in diesem Land weitergeht. Aber schon die erste nationale Prüfung haben wir nicht bestanden.“ Und weil die sabotierte Wahl eines eigenen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten „keine Episode war, sondern ein strukturelles Problem, das wahre Drama“ dieser Partei, habe sie ihre Autonomie verloren.

Was das Direktorium des Partito Democratico nach zweistündiger, von Bitterkeit, versteckten und offenen Hieben geprägter Diskussion dann verabschiedet, ist tatsächlich die Urkunde einer Kapitulation: „Volle Unterstützung für Staatspräsident Giorgio Napolitano bei seinem Versuch einer Regierungsbildung.“ Die Partei, heißt das, gibt die Regie aus der Hand. Bersani bekräftigt seinen eigenen Rücktritt noch einmal als „nützlich“. Er macht damit den Weg frei für den zweiten Mann, seinen Stellvertreter Enrico Letta, was die Niederlage für ihn komplett macht.

Der Sieger der Stunde sieht nicht wie ein Sieger aus. Giorgio Napolitano soll mit beinahe 88 Jahren, davon 53 im italienischen Parlament und sieben als Staatspräsident, wieder einmal richten, was die Parteien selbst nicht schaffen. Schon im November 2011, als Berlusconis Regierung das Land an den Rand des Staatsbankrotts geführt hatte, nahm Napolitano die Zügel in die Hand. Er überzeugte das Parlament, die von ihm erfundene Technokratenregierung um Mario Monti zu unterstützen. Vergangene Woche dann war er auf dem Weg in den Ruhestand, zu Literatur und Musik – aber seine Umzugskisten musste er wieder auspacken. Die Parteien haben ihn in ihrer Hilflosigkeit am vergangenen Samstag ein zweites Mal gewählt. Wenn es einen Garanten von Stabilität, Anstand und Moral gibt in der italienischen Politik, dann ihn: „König Giorgio“.

Bei seiner ersten Wahl, im Mai 2006, nannten sie den gebürtigen Neapolitaner noch „Sir George“, wegen seiner ungewöhnlich britischen Korrektheit und Lebensweise – und auch, weil sie ihm tatsächlich zutrauten, ein Buch mit englischen Gedichten verfasst zu haben. Napolitano hat das dementiert. Aber England, Amerika, das war immer schon seine Welt, ganz unüblich für einen gelernten Kommunisten, und wenn seine Landsleute ihn sahen, wie er bei Staatsbesuchen dort in den Fernseh-Talkshows und vor Studenten in ebenso mühelosem wie geschliffenem Englisch um Vertrauen für sein turbulentes Land warb, dann wussten sie: Das können im politischen Italien nicht viele.

Berlusconi führte 2006 das gleiche Theater auf wie zunächst vergangene Woche: Die Linke könne nach ihrem Sieg bei der Parlamentswahl – Romano Prodi war das damals, und auch nur sehr kurzlebig – nicht auch noch das Amt des Staatspräsidenten okkupieren wollen. „Das Land erträgt keinen Kommunisten an seiner Spitze“, wetterte Berlusconi. Und: „Wenn wir Napolitano wählen, legitimieren wir die gesamte Unheilsgeschichte der Kommunistischen Partei Italiens.“ Die linke Parlamentshälfte wählte Napolitano trotzdem, ohne Berlusconi weiter zu beachten – und dieser ist heute heilfroh, „den Kommunisten“ behalten zu können.

Seit Monaten hat man Berlusconi nicht mehr entspannt gesehen oder gar in Gelächter ausbrechen. Erst als Napolitano als Staatspräsident im Parlament durchkam, fing er – ehrerbietig umringt von den üblichen Hofschranzen – wieder fröhlich an, Witzchen zu erzählen. Napolitano, sagt Berlusconi heute und gibt damit eigentlich nur wieder, was eine starke Mehrheit auch der italienischen Bürger denkt, „ist der Bezugspunkt für alle“.

Berlusconi hat es eilig in diesen Tagen. Zwar sind seine beiden Gerichtsverfahren in Mailand ausgesetzt, weil der für Prostitution mit Minderjährigen, Amtsmissbrauch und Steuerdelikten Angeklagte diesmal wirklich unbestreitbare politische Verpflichtungen geltend machen konnte. Nach dem 13. Mai aber stehen das erstinstanzliche Urteil im Bunga-Bunga-Prozess und das Verdikt zweiter Instanz für krumme Schwarzgeldgeschäfte bevor, womöglich die Bestätigung jener vier Jahre Haft, die das erste Gericht im Oktober vergangenen Jahres verhängt hat. Vielleicht kommt’s noch schlimmer.

Berlusconi droht das fünfjährige Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden. Da muss die von ihm geforderte „Regierung der weiträumigen Absprachen“ schnell unter Dach und Fach gebracht werden, danach verschlechtert sich seine Verhandlungsposition unter Umständen erheblich. Derweil zieht sich die Hauptbruchlinie in der sozialdemokratischen Partei immer noch, wie seit zwanzig Jahren, entlang der Frage, ob man mit „diesem“ Berlusconi überhaupt jemals eine Koalition eingehen darf.

Die Grillinis: "Wir bleiben die einzige Opposition in Italien"

Napolitano will diese Große Koalition. Das hat er am Mittwochmittag ausdrücklich bestätigt. „Das ist die einzige Möglichkeit für die Regierung, auf die das Land schon viel zu lange wartet.“ Und nachdem sie Napolitano am Samstag praktisch auf Knien angefleht hatten, noch einmal den Staatschef zu geben, müssen sich die Parteien der „Regierung des Präsidenten“ nun auch beugen.

Immerhin hat das Staatsoberhaupt bei der Bestellung des neuen Ministerpräsidenten nicht auf seinesgleichen zurückgegriffen. Auf den früheren zweimaligen Premier Giuliano Amato beispielsweise, der als aussichtsreichster, erfahrenster, international bekanntester Kandidat galt. Aber das ging wohl nicht, da er schon jetzt aus seinen verschiedenen Ämtern das Anrecht auf eine Monatspension von 31 000 Euro besitzt. Amato verteidigt sich, er gebe ein Drittel davon für wohltätige Zwecke aus, aber die Flanke ist weich, vor allem in Zeiten, in denen der Ruf nach einem grundlegenden Politikwechsel immer stärker wird und sich der Erfolg von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung sich dem Versprechen verdankt, alle jene „nach Hause schicken“ zu wollen, die etwas mit der alten Politik zu tun haben.

Napolitanos Wahl fiel also auf Enrico Letta, aber der sieht sich gar nicht als Sieger. Der 46-Jährige fühlt nun „eine stärkere Last auf mich geladen, als meine Schultern aushalten“. Er sagt es so, als er am Mittwochmittag, flankiert und salutiert von zwei Langen Kerls der zeremoniellen Palastgarde aus dem Amtszimmer Napolitanos tritt. Enrico Letta steht dabei kerzengerade. Da zuckt kein Nerv in seinem Gesicht. Wenn Letta nervös sein sollte, dann verbirgt er es jedenfalls geschickt. Unter ihm sollen die Parteien ihre heiligen Versprechen des „nationalen Zusammenhalts“ nun also einlösen und ihm eine Mehrheit sichern. Und das jetzt bitte zackig: noch im Lauf der Woche.

Bisher ist der hochgewachsene, dünne Politiker einer der wenigen, der praktisch mit allen Strömungen, allen Generationen der zerfallenden sozialdemokratischen Partei kann. Und er hat trotz seines Alters bereits Erfahrung. Mit 33 Jahren war Letta, der Intellektuelle, bereits Europaminister, danach Europaabgeordneter, danach „Kanzleramtsminister“ für Romano Prodi. Und jenseits des Lagers schätzt ihn auch Berlusconi. Als Minister fuhr er auf der Vespa durch Rom. Auch am Mittwoch erreichte er den Quirinalspalast am Steuer seines privaten Fiats. Letta gehört nicht zu jener Dienstwagen- und Selbstbedienungsrepublik, gegen die Grillo und die jungen Garden so vehement anrennen. Und – seltsam für Italien – seine ganz besonderen Familienbande haben ihn nie kompromittiert. Im Gegenteil.

Enrico Letta ist der Neffe von Gianni Letta, dem langgedienten Faktotum und persönlichen Staatssekretär Berlusconis. 2006, beim Regierungswechsel von Berlusconi zu Prodi, empfing Enrico die Protokoll-Glocke des „Kanzleramtsministers“ aus den Händen seines Onkels; 2008, als Berlusconi wiederkehrte, gab er sie in dessen Hände zurück.

Einzig Beppe Grillo wettert, wie üblich per Internet, es bleibe in Rom halt doch wieder alles in der Familie. Da setzten sich die üblichen drei, vier Berufspolitiker in den üblichen Hinterzimmern zusammen, um abseits des Volks ihre Verabredungen zu treffen. „Sie teilen die Pöstchen unter sich auf, und in der realen Welt draußen stirbt jede Minute eine Firma.“

Spätestens für den Herbst erwartet Grillo den Staatsbankrott. Nein, die „weitreichenden Absprachen“ der heraufziehenden Großen Koalition, die will Grillo den Alten überlassen: dem Staatspräsidenten, den er – nach dem antiken Gott des Schlafs – gerne als „Morpheus“ schmäht, und den „untergehenden Parteien“.

„Wir bleiben“, teilten die „Grillini“ dem Staatspräsidenten kurz und bündig mit, „die einzige Opposition in Italien.“

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