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Nach jüngsten Umfragen könnte die rechtsextreme Front National (FN) von Parteichefin Marine Le Pen mit knapp 30 Prozent zur stärksten Kraft werden.

© Reuters

Regionalwahlen in Frankreich: Marine Le Pen ist noch nicht am Ziel

Marine Le Pen, die Chefin des Front National, sieht schon vor dem heutigen Wahltag ihre Partei als „erste Partei“ Frankreichs. Aber sie will noch mehr - sie will Präsidentin werden.

Am Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock seiner Villa Montretout in Saint-Cloud bei Paris hat Jean-Marie Le Pen ein altes Marinefernrohr aufgebaut. An das pflegt er Besucher zu führen und sie einen Blick über die Seine auf die politischen Zentren der Republik werfen zu lassen, den Elysée-Palast, das Parlament, die Ministerien und die Hauptquartiere der Parteien. Auf Letztere hat er es seit jeher abgesehen. Ihr „Kartell“ wolle er zerschlagen, hat er immer wieder erklärt.

Ein Erfolg blieb dem Gründer des rechtsextremen Front National (FN), als dessen „Ehrenpräsident“ er heute mit 86 Jahren firmiert, in seiner langen Karriere verwehrt. Doch nun schickt sich Marine an, seine Tochter, die ihm 2011 an der Parteispitze nachfolgte, Frankreichs Parteienlandschaft umzupflügen und „UMPS“, wie sie die rechtsbürgerliche UMP und die Sozialistische Partei (PS) verächtlich in einen Topf wirft, aus ihren Machtpositionen zu vertreiben. Unter ihrer Führung könnte der Front National an diesem und dem kommenden Sonntag aus den Départementswahlen, bei denen über eine neue Zusammensetzung der den deutschen Kreistagen vergleichbaren Räte in den französischen Départements entschieden wird, als stärkste Partei hervorgehen. Schon seit Monaten sagen die Umfrageinstitute dem FN Stimmenanteile von mehr als 30 Prozent voraus, mehr als der oppositionellen UMP und den regierenden Sozialisten. Gestützt auf diese Prognosen hat Marine Le Pen den FN bereits zur „ersten Partei“ Frankreichs proklamiert.

Der Anspruch klingt großsprecherisch. Doch von der politischen Klasse wird er wie eine Drohung wahrgenommen. „Der Front National als erste Partei Frankreichs, das wäre eine kollektive Niederlage“, hat der sozialistische Präsident François Hollande dieser Tage eingestanden.

Auch wenn sich diese Aussicht bei der Auszählung der Stimmen nicht ganz so krass bestätigen sollte, so wurde dem möglichen Ausgang dieser Lokalwahl schon vorher nationale Bedeutung zugemessen. Politologen wie der Parteienforscher Pascal Perrineau sehen den FN am Wendepunkt eines langen Weges angekommen, auf dem die 1972 gegründete rechtsextreme Splittergruppe vom äußersten Rand des Parteienspektrums in dessen Zentrum vorstieß: in vier Jahrzehnten vom Sammelbecken versprengter Nationalisten, Nostalgikern des verlorenen Kolonialreichs, unverbesserlicher Antisemiten und erzkatholischer Reaktionäre zu einer Partei des Protestes, die von der wirtschaftlichen Globalisierung verunsicherte und mit der gesellschaftlichen Liberalisierung hadernde Wähler mit ihren simplen Thesen anzieht.

Auschwitz sei nur ein Detail der Geschichte verkündete FN-Gründer Jean-Marie Le Pen

Bei seiner ersten Kandidatur zu einer Präsidentenwahl 1974 erreichte Jean-Marie Le Pen einen Stimmenanteil von gerade 0,75 Prozent. Sein zweiter Anlauf 1981 scheiterte, weil er die nötigen Unterschriften von 500 Mandatsträgern nicht zusammenbekam. Für sein kümmerliches Abschneiden machte er die etablierten Parteien verantwortlich, die ihn, so sein Vorwurf, durch ihr Zusammenspiel, ausgrenzen wollten. Das änderte sich, als der sozialistische Präsident François Mitterrand mit einer Wahlreform dem Front National den Einzug ins Parlament ermöglichte, um eine absolute Mehrheit von Gaullisten und Rechtsliberalen zu verhindern. Schon vorher allerdings hatten sich auf lokaler Ebene Gaullisten mit dem FN verbündet, um in der Stadt Dreux bei Paris die Wahl eines Sozialisten zum Bürgermeister zu hintertreiben.

Es war ein riskantes Spiel, auf das sich die etablierten Parteien da einließen. Die Geister wurden sie nicht mehr los. Denn die Partei des wegen seiner rassistischen und antisemitischen Ausfälle gemiedenen und von der Justiz verfolgten Le Pen – Auschwitz sei nur ein Detail der Geschichte, verkündete er zum Beispiel – entwickelte sich allmählich zu einer lästigen Konkurrenz. Dazu trug nicht zuletzt die Krise bei. Mit ihrer Propaganda, die die Einwanderung als Ursache wachsender Arbeitslosigkeit und zunehmender Kriminalität darstellte, traf der FN bei enttäuschten Wählern auf Zustimmung. Von ihren Wahlplakaten prangte der Slogan „les Français d’abord“ (die Franzosen zuerst), noch drastischer hetzte der Parteichef, die „Araber übers Mittelmeer zurückzujagen“. Bei Wutbürgern, wie man sie heute nennen würde, kam das an.

Jetzt macht es die Tochter

Im Wahllokal. Wegen des Wahlrechts haben die Rechtsextremen trotz allem kaum eine Chance, die Mehrheit in einem der 101 Départements zu erringen.
Im Wahllokal. Wegen des Wahlrechts haben die Rechtsextremen trotz allem kaum eine Chance, die Mehrheit in einem der 101 Départements zu erringen.

© AFP

Über mehr als fünf bis 15 Prozent kam Le Pen jedoch nie hinaus. Auch als er bei der Präsidentenwahl 2002 an dem sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin vorbei in die Stichwahl gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac einzog, hielt sich sein Stimmenanteil mit 17 Prozent in Grenzen. Zum Duell Chirac – Le Pen kam es nur, weil Jospin die Stimmen von der zerstrittenen Linken für die Qualifikation zur zweiten Runde fehlten. Gegen den dann von der Linken in einer republikanischen Aufwallung unterstützten Chirac hatte Le Pen nicht den Hauch einer Chance. Doch den Sozialisten steckt der Schock bis heute in den Knochen.

Seit 2011 steht nun Marine Le Pen an der Spitze des Front National. Das Amt fiel ihr in der als Familienunternehmen geführten Partei wie ein Erbhof zu. Die 46-jährige Rechtsanwältin und zweimal geschiedene Mutter dreier Kinder ähnelt dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie ist auch nicht weniger radikal. Doch sie ist geschickter als der raubeinige Alte. Und zielstrebiger. Die Finanzen der Partei sanierte sie durch rigorose Einsparungen. Zur Finanzierung von Ausgaben wie der systematischen Schulung von Funktionären lieh sich die Partei neun Millionen Euro bei einer russischen Bank. Um ihre Wählerbasis zu erweitern, verordnete sie ihr eine „Entteufelung“, wie sie es nannte. Antisemitische Ausfälle oder rassistische Beleidigungen wie jüngst noch die Verhöhnung der aus Französisch-Guyana kommenden Justizministerin Christiane Taubira als „Affenfrau“ wurden mit dem Parteiausschluss geahndet. Gegen ihren Vater, als der sich wieder einmal zu einer Provokation hinreißen ließ, konnte sie das zwar nicht durchsetzten, aber sie beging das Sakrileg, sich von ihm öffentlich zu distanzieren.

Die FN bleibt fremdenfeindlich und antieuropäisch

Eine weichgespülte Partei ist der FN damit keineswegs geworden. Ihren fremdenfeindlichen, antieuropäischen Kurs hat sie beibehalten. Als Abgeordnete im Europäischen Parlament hat Marine Le Pen ihn sogar noch verschärft. Den Euro soll Frankreich aufgeben. Sie ist gegen den Sparkurs zur Überwindung der Schuldenkrise. Die Wirtschaft will sie vor der globalen Konkurrenz abschotten und das Schengen-Abkommen über den ungehinderten Reiseverkehr zum Schutz vor Terroristen aufkündigen. Die Todesstrafe will sie per Volksabstimmung wieder einführen lassen. Sie tritt für die Laizität ein, die Trennung von Religion und Staat, doch Toleranz für Muslime kennt sie nicht.

Der Wechsel an der Parteispitze beginnt sich für Marine Le Pen auszuzahlen. Ihr unermüdlicher Einsatz auf Marktplätzen, in Wahlkreisen, bei Parteiversammlungen und in TV-Sendungen, in denen sie mit ihrer Eloquenz alle an die Wand redet, bringt der Partei von mal zu mal Zulauf ein. Bei der Präsidentenwahl 2012 kam Marine Le Pen auf 6,4 Millionen Stimmen, mit einem Anteil von knapp 18 Prozent war dies mehr, als ihrem Vater je zufielen. Bei der anschließenden Parlamentswahl errang der FN zwei Sitze. Einen davon hat Marion Maréchal-Le Pen inne, eine Enkelin des Parteigründers und Nichte der Parteichefin. Die 25-jährige Juristin, deren Extremismus selbst ihre Tante blass aussehen lässt, gilt als künftiger Star des Familienunternehmens Le Pen.

Den Sozialisten von Präsident François Hollande sagen die Meinungsforscher mit um die 20 Prozent eine schwere Schlappe voraus.
Den Sozialisten von Präsident François Hollande sagen die Meinungsforscher mit um die 20 Prozent eine schwere Schlappe voraus.

© dpa

Nach der Gemeindewahl im vergangenen Jahr, bei der die Nationalisten die Mehrheit in 15 Rathäusern eroberten, löste die darauf folgende Europawahl einen Schock aus. Mit 24,8 Prozent der Stimmen, die ihr 24 Sitze in Straßburg einbrachten, übertraf der Front National erstmals UMP und Sozialisten. Relativiert wurde dieser Triumph, als „erste Partei“ zu gelten, indes durch die geringe Wahlbeteiligung.

Nun hofft Marine Le Pen bei der Départementswahl auf die Bestätigung ihres Anspruchs. Hatte der FN früher bei solchen Wahlen Schwierigkeiten, eine ausreichende Zahl von Bewerbern aufzubieten, tritt sie diesmal in fast allen der 2054 Wahlkreise mit Kandidaten an. An Interessenten mangelte es nicht, zumal zahlreiche Überläufer von anderen Parteien, vor allem von der UMP, rechtzeitig das Lager wechselten. Jüngste Bewerberin ist eine 18-jährige Studentin, älteste eine 91-jährige Oma. Die Kandidaten sind laut einer Untersuchung des Instituts Harris zumeist kleine Angestellte, Rentner der Privatwirtschaft, aber nur wenige Beschäftigte des öffentlichen Sektors. Ihr Altersdurchschnitt liegt unter 50 Jahren, bei den anderen Parteien darüber. Angehörige akademischer Berufe oder Intellektuelle sind kaum darunter. Die FN-Kandidaten entsprechen damit weitgehend den Bevölkerungskreisen, aus denen sich ihre Wählerschaft rekrutiert und deren Sorgen sie verstehen.

Nur Wenige bescheinigen der FN Regierungstauglichkeit

Rückt Frankreich politisch nach rechts? Als Partei der „petits Blancs“, des „weißen Proletariats“, wie der Soziologe Sylvain Crépon sie bezeichnet, ist der FN noch keine Volkspartei. Doch das könnte sich ändern, wenn sich der zu dieser Wahl vorausgesagte Stimmenanteil von einem Drittel bei einer hohen Wahlbeteiligung bestätigen sollte. Die Dämme zwischen den traditionellen Parteien und dem Front National sind durchlässig geworden.

Regierungsfähigkeit bescheinigen ihr dennoch nur wenige. Doch eine Wiederholung des Desasters von 2002, diesmal mit Marine Le Pen in der zweiten Runde der nächsten Präsidentenwahl 2017 würden der Parteienforscher Perrineau und mit ihm auch viele Politiker nicht mehr ausschließen. Mit einem Unterschied freilich. Was damals ein politischer Betriebsunfall war, könnte beim nächsten Mal ein Drama der Demokratie sein. Der alte Le Pen war ja an der Macht eigentlich gar nicht interessiert. Dafür hing er viel zu sehr an seinem bequemen Dasein als Millionär. Tochter Marine aber will die Macht. Sie sagt: „Jeder Tag bringt sie uns näher.“

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