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Oh mein Gott!

© dpa

Religion und Gesellschaft: Nicht nur im stillen Kämmerlein

Religionen sind keine Privatsache, denn sie wollen Gesellschaften mitgestalten. Und das gilt für das Christentum wie für den Islam. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Das sind starke Sätze. „Ostdeutsche gehören zu Deutschland, sie haben selbstverständlich die gleichen Rechte und Pflichten wie alle Bürger dieses Landes.“ Und: „Ein Dialog mit ostdeutschen Verbänden ist immer nur auf dem Boden des Grundgesetzes möglich.“ Nein, das hat Bundesinnenminister Horst Seehofer nicht gesagt. Sonst wäre ein Sturm der Entrüstung losgebrochen. Man betont ja nur das, was nicht selbstverständlich ist. Ähnlich empört wäre die Öffentlichkeit, wenn es statt „Ostdeutsche“ „Fahrradfahrer“ oder „Frauen“ heißen würde.

Gesagt aber hat Seehofer anlässlich der vierten Islamkonferenz das: „Die Muslime gehören zu Deutschland, sie haben selbstverständlich die gleichen Rechte und Pflichten wie alle Bürger dieses Landes.“ Und: „Ein Dialog mit islamischen Verbänden ist immer nur auf dem Boden des Grundgesetzes möglich.“ Solche Botschaften hören auch Millionen muslimische Deutsche, die hier geboren wurden und denen dieses Land ihre Heimat ist. Wie wirkt es auf sie, wenn im Gewand positiver Aussagen der Eindruck transportiert wird, dass etwas bekräftigt werden muss, weil es nicht selbstverständlich ist? Gut gemeint und paternalistisch sind manchmal eben keine Gegensätze.

Islam geht nur in homöpathischen Dosen

Natürlich werden hier Äpfel mit Birnen verglichen, aber beides ist Obst, ein Vergleich also nicht abwegig. Fremdeln Muslime stärker mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Nichtmuslime? Dafür gibt es keine Belege. Statt dessen zeigen Umfragen bis in die jüngste Zeit, dass jeder zweite Ostdeutsche Vorbehalte gegen die Demokratie hat.

Von Muslimen wird ständig alles verlangt. Sie sollen sich integrieren, sich säkularisieren, sich modernisieren, dem Extremismus abschwören, das Grundgesetz akzeptieren, Religion und Politik voneinander trennen, Imame nur auf Deutsch predigen lassen, keine Geldmittel aus dem Ausland annehmen. Ganz privat und spirituell nur in homöopathischen Dosen soll der Islam praktiziert werden dürfen. Jede andere Ausdrucksform gilt als anmaßend.

Unterstützt wird der Privatisierungsdruck von sogenannten Islamkritikern. Einige von ihnen – darunter Cem Özdemir, Seyran Ates, Necla Kelek und Hamed Abdel-Samad – haben vor Kurzem die „Initiative säkularer Islam“ gegründet. Auch sie fordern eine Trennung von Staat und Religion sowie das Primat der Gesetze. Eine Anerkennung der Islamverbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts lehnen sie ebenso ab wie eine Finanzierung von Moscheegemeinden aus dem Ausland. Das klingt zwar vernünftig, doch die meisten Religionen gehen übers Beten, Meditieren und Singen hinaus. Es sind Weltanschauungen. Ihre Vertreter stellen Gottes Wort über das weltliche Gesetz, leiten aus den Heiligen Schriften sowohl moralische Regeln ab als auch einen gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag.

Die "Gehorsamspflicht von Christen gegenüber dem Staat" hat Grenzen

Das Christentum kennt Dutzende solcher Beispiele, man denke an die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Befreiungstheologen in Lateinamerika, das antikommunistische Wirken von Papst Johannes Paul II., dissidentische Untergrundgemeinden in China, die Friedensbewegung. Politisch? Na, klar!

Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Pfarrer und bekannteste Repräsentant der Bekennenden Kirche, meinte, die Gehorsamspflicht von Christen gegenüber dem Staat binde nur so lange, „bis die Obrigkeit den Christen direkt zum Verstoß gegen das göttliche Gesetz zwingt“. Im „Augsburger Bekenntnis“ von 1530 heißt es, dass, wenn der Obrigkeit Gebot nicht ohne Sünde befolgt werden kann, „soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen“.

Und was ist mit der Finanzierung religiöser Gruppen aus dem Ausland? Auch da sollten sich Christen zunächst an die eigene Nase fassen. Von Ägypten bis Äthiopien, Kuba bis Tansania wird mit deutschen Kirchensteuern die Ausbildung von Theologen unterstützt. Chinas Christen wiederum sind auf koreanische und amerikanische Geistliche angewiesen. Religionen sind wesensmäßig transnational. Der Glaube kennt keine Grenze. Mischt sich der Vatikan bei Bischofsernennungen und auch sonst global ein? Selbstverständlich.

Der Rechtsstaat muss Gesetzesverstöße ahnden. Mildernde Umstände für Verbrechen, die aus religiösen Motiven begangen werden, gibt es nicht. Aber Gesinnungstreue einfordern darf er nicht. „Der freiheitliche Staat kann und sollte als Bedingung für den Bürgerstatus kein Wertebekenntnis verlangen“, sagt der europäische katholische Rechtsgelehrte Ernst-Wolfgang Böckenförde. Die Zeugen Jehovas etwa dürfen lehren, dass der Staat eine Erfindung des Teufels sei, sie dürfen aber keine Wahllokale verwüsten oder in Brand stecken.

Konservative in Deutschland sind stolz auf die „jahrhundertealte christlich-jüdische Prägung“ (Seehofer), auf ihre Partei, die Politik „auf der Grundlage christlicher Verantwortung und fester Grundwerte entwickelt“ (Friedrich Merz). Auch solche Sätze zeugen von einem aus der Religion resultierenden gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch. Ihn Andersgläubigen zu verwehren ist diskriminierend.

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